Stress wegen -ess?
Wenn wir an die englische Sprache denken, beneiden vermutlich nicht wenige die Sprachgemeinschaft, die sich kaum dem Thema Gender zuwendet, wenn man zumindest von der Diskussion um die Pronomen he, her sowie mankind und anderen Kleinigkeiten absieht. Alle -er-Wortbildungen nämlich, wie worker, ranger, jogger, werden anders als dt. Arbeiter, Aufpasser, Jogger entspannt als geschlechtlich unspezifisch betrachtet. Der Unterschied ist schneller erklärt als tatsächlich durchdrungen: Diese Personenbezeichnungen haben kein Genus – weshalb man nur die Artikel the und a benötigt.
Allerdings dürften sich auch im englischen Raum nicht alle auf Dauer damit zufriedengeben, denn auch dort gibt es durchaus Marker, die ein Geschlecht festlegen: bei der einfachen mistress (Mrs.), hostess, stewardess oder usherette (›Gerichtsdienerin; Platzanweiserin‹, auf -ette) ebenso wie bei der blaublütigen duchess, baroness und princess. Selbst god ist abgeleitet worden (goddess), um zweifelsfrei eine Göttin bezeichnen zu können. Und das, obwohl der Artikel hier immer noch nicht das Geschlecht unterscheidet. So mag der eine oder die andere die kühne These belächeln, dass auch im Englischen alsbald heiß darüber diskutiert wird, ob nicht die -er-Endung doch eine Erweiterung wie -ess erfahren muss und ohnedies nicht eher männliche als andere Personen bei Wörtern wie officer assoziiert werden. Auch wenn ein Adelstitel, der marquess (von fr. marquis), der trotz -ess ein Mann ist (weibl.: marchioness), dieser These im Weg zu stehen scheint (es wird [kwɪs] gesprochen): Gegangen werden kann dieser dennoch.
Von der Zukunft in die Vergangenheit: Die -ess-Bildungen sind natürlich nicht nativ, sondern aus dem Französischen entlehnt worden (hier: -esse). Auch im Deutschen sind einige Ausdrücke gebräuchlich: Hostess etwa, für den übrigens eine männliche Variante fehlt. Dabei ist das Wort gar nicht so unscheinbar: Mit ihm sind weitere Wörter gebildet (gekreuzt) worden, vorzugsweise mit -esse: Politesse (aus Polizei + Hostess), Ero(s)tess(e) (mit Eros) oder Hospitesse (mit Hospital) – ursprünglich Berufe nur für Frauen.
Torsten Siever