Ausgabe: Der Sprachdienst 1-2/2022

Toxisch

Toxische Vielfalt (CC-Lizenzen)

Wer an den Naturkunde-Unterricht seiner Schulzeit zurückdenkt, dem wird vermutlich auch wieder einfallen, wo er dieses Wort schon einmal gehört hat – toxisch, das war doch, das ist doch … ›giftig‹! Ja, ganz genau. Inzwischen hört man es jedoch nicht nur im medizinischen, biologischen oder chemischen Kontext, sondern begegnet ihm auch im Alltag gefühlt »an jeder Ecke«. Diese Ecken sollen im Folgenden etwas näher ausgeleuchtet werden, ebenso die Frage, ob das Wort dennoch seine ursprüngliche Bedeutung beibehalten hat oder ob sie erweitert worden ist.

Das Adjektiv toxisch leitet sich ab vom Substantiv Toxikum mit der Bedeutung ›Gift‹. Dieses geht zurück auf das lateinische toxicum bzw. das griechische toxikón und bedeutete ursprünglich ›Pfeilgift‹ im Sinne eines in Gift getränkten Pfeils, wodurch ein Getroffener noch sicherer zu Tode kommt. Dieses wiederum führt uns zurück zu griechisch toxikós ›zu Pfeil und Bogen gehörig‹ und zu tóxon ›Bogen, Geschoss, Pfeil‹. Mit der Bedeutung ›Gift‹ wurde das Wort Toxikum um 1700 in die Sprache der Medizin übernommen. Eine »Lehre von den Giften und ihrer Wirkung auf den Organismus« entstand um 1800, das dazugehörige Adjektiv toxikologisch fasste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fuß. Fachsprachlich war der Wortbestandteil Tox(i)- recht produktiv, so entstanden im Laufe der Zeit Fachausdrücke wie Toxalbumin ›pflanzlicher Eiweißstoff mit Giftwirkung‹, Toxämie ›Zersetzung des Blutes durch Giftstoffe‹, Toxidermie ›Hautausschlag infolge Gifteinwirkung‹, Toxin ›Giftstoff bakterieller, pflanzlicher oder tierischer Herkunft‹ und schließlich im 20. Jahrhundert und damit relativ spät: toxisch ›giftig‹ mit deutscher Adjektivendung (vgl. www.dwds.de).

Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung ›giftig‹ erweitert zu ›durch Gift verursacht, auf einer Vergiftung beruhend‹, das Wort toxisch bezieht sich also nicht mehr nur auf einen Stoff oder Ähnliches, das die Eigenschaft ›giftig‹ aufweist, sondern kann auch verwendet werden in Bezug auf die Auswirkungen, die ein toxischer Stoff hat, etwa toxische Krankheiten, toxische Schädigungen.

Die Belege im Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (www.dwds.de) weisen eine Zunahme der Wortverwendung seit ca. 2005 auf. Das spricht dafür, dass es sich aus der Fachsprache gelöst hat und in der Standardsprache angekommen ist. Tatsächlich wird das Wort seitdem auch in einer zwar verwandten, aber dennoch neuen, erweiterten Bedeutung verwendet, nämlich im Sinne von ›sehr bösartig, gefährlich, schädlich, zermürbend‹. Zunehmend findet das Wort toxisch nun Gebrauch in Kontexten gesellschaftlicher Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Feminismus und auch in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Besonders häufige Wörter, die laut dem Projekt Wortschatz Leipzig (wortschatz.uni-leipzig.de) im Zusammenhang mit dem Adjektiv toxisch auftreten, sind Männlichkeit (»toxische Männlichkeit«), Beziehung (»toxische Beziehung«) – und Britney Spears. Letzteres gibt vielleicht zunächst Rätsel auf, ist aber schnell erklärt, denn die amerikanische Sängerin hat im Jahr 2004 ein Lied mit dem Titel »Toxic« (deutsch: ›toxisch, giftig‹) veröffentlicht. Darin wird eine Person beschrieben, die »toxic« ist; auch hier ist das Wort wohl eher im Sinne von ›schädlich‹ denn von ›giftig‹ zu verstehen.

Bei toxischer Männlichkeit, toxischem Feminismus oder einer toxischen Beziehung handelt es sich also um Verhältnisse, die in ihrer Ausprägung schädlich (geworden) sind. So handelt es sich bei toxischer Männlichkeit um ein Verhalten von Männern, das der Gesellschaft oder sogar Männern selbst schadet. Zwar gibt es diesen Begriff bereits seit den 1980er-Jahren, er wurde jedoch zunächst nur in akademischer und politischer Literatur gebraucht, um aggressives oder kriminelles Verhalten von Männern am Rande der Gesellschaft zu beschreiben. Eine klare Definition von toxischer Männlichkeit gibt es heute nicht, doch häufig wird sie mit Gewalt, Dominanz, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit assoziiert. In den Medien wird der Begriff seit Beginn des Jahrtausends verwendet; besonders prägend ist er seit 2016: Donald Trump und die #MeToo-Bewegung haben ihn in der Gesellschaft weit verbreitet.

Entsprechend dieser übergreifenden Deutung als ›schädlich‹ ist auch toxischer Feminismus oder toxische Weiblichkeit (als Gegenentwurf zu toxischer Männlichkeit) als ›schädlicher Feminismus‹ zu verstehen: Dieser schadet dem Feminismus und seinen Idealen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, indem vermittelt wird, die moderne Frau müsse das Gleiche können und leisten wie Männer, nebenbei ihren (Familien-)Alltag meistern, sich um Kinder, Haushalt, Angehörige kümmern, einer Arbeit oder gar Karriere nachgehen, gängigen Schönheitsidealen entsprechen und so fort. Eine toxische Beziehung ist eine ›schädliche Beziehung‹, die durch die Art, wie sie durch die Beziehungspartner geführt wird, einem oder beiden Beteiligten Schaden zufügt, ihnen Kraft und Energie, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit raubt; kurz: eine toxische Beziehung macht unglücklich.

Denkt man diese Reihe weiter, so kann letztlich alles, was einem nicht guttut, was einem schadet, als toxisch bezeichnet werden: toxische Personen, eine toxische Familie, toxische Freundschaften, ein toxischer Lebensstil … Die häufigsten Suchanfragen bei Google im Zusammenhang mit dem Adjektiv toxisch sind neben medizinischen Befunden (toxisches Schocksyndrom, toxisches Lungenödem, toxisches Blut etc.) und den oben genannten Begriffen: toxische Menschen, Eltern; toxisches Verhalten, Arbeitsumfeld etc. Was hier nicht auftaucht, sind die toxischen (Wert-)Papiere, Aktien, Anleihen und dergleichen: Auch sie sind schädlich, indem sie einen »weit unter dem Nominalwert liegenden Marktwert« (vgl. Duden) aufweisen. Aber diese sehr spezifische Bedeutung dürfte im Allgemeinen nicht gemeint sein, wenn das Wort toxisch fällt. Beobachten Sie das Wort und seine Verwendung doch einmal: Wir sind sicher, es wird Ihnen von nun an häufiger auffallen.

Frauke Rüdebusch