Groß- oder Kleinschreibung substantivierter Verben
[F] Wie verhält es sich mit der Großschreibung im Fall des Satzes Wir trafen uns zum Vorlesen? Ist Vorlesen hier als Substantivierung zu deuten?
[A] In der Tat ist Vorlesen hier ein substantiviertes Verb. Es erfüllt alle drei Kriterien, die das amtliche Regelwerk in § 57 für Substantive angibt, vgl. dort die Musterbeispiele Das Lesen fällt mir schwer und Das ist zum Lachen. Erstens kann es auf die gleiche Art wie ein Substantiv erweitert werden, zum Beispiel mit einem adjektivischen Attribut wie zum gemeinsamen Vorlesen. Zweitens steckt in dem Wörtchen zum bereits der Artikel als typischer Begleiter des Substantivs: zu und dem verschmelzen zu zum, es handelt sich also um das Vorlesen. Drittens ist es kasusbestimmt (das Regelwerk formuliert in meinen Augen hier unnötig umständlich: »Funktion […] als kasusbestimmtes Satzglied oder kasusbestimmtes Attribut): Im vorliegenden Fall tritt Vorlesen im Dativ auf, den die Präposition zu verlangt. Da Vorlesen also alle Kriterien für ein Substantiv erfüllt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es auch großzuschreiben ist.
Es gibt allerdings auch Fälle, in denen die Entscheidung, ob nun eine Substantivierung vorliegt oder nicht, weniger eindeutig zu treffen ist. So existieren die – eher dialektal gebräuchlichen – Ausdrücke Sie war am Essen oder Er war beim Putzen, die häufig als »rheinische Verlaufsform« bezeichnet werden (vgl. auch den Aufsatz von Michael Rödel in Muttersprache 2/2003 über »Die Entwicklung der Verlaufsform im Deutschen«). Die amtliche Regelung enthält kein Beispiel dieser Art, doch aufgrund der Verschmelzung von Präposition und Artikel erscheint es zunächst einmal nahe liegend, diese Fälle mit denen in § 57 aufgeführten in Verbindung zu bringen.
Dennoch kann stark in Zweifel gezogen werden, ob hier tatsächlich Substantivierungen vorliegen. So führt z. B. die dreibändige Grammatik des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim dieses Phänomen unter dem Begriff »Verbale Gruppen«. Auch die Duden-Grammatik behandelt das Phänomen im Kapitel »Das Verb«, Unterpunkt »Infinitregierende Verben«. Beide Publikationen wählen Großschreibung für das Verb, was nicht recht konsequent erscheint. Tatsächlich scheint es sich hier nämlich weniger um ein Substantiv als viel eher um eine echte verbale Gruppe zu handeln: Eine Erweiterung, wie sie für ein Substantiv typisch wäre, ist nicht möglich (*Sie war am leckeren Essen), dafür aber der Einschub eines Akkusativobjekts, das für gewöhnlich nur in Verbindung mit einem Verb auftritt (Sie war den Kuchen am Essen). Dieser letzte Satz entspricht zwar nicht den standardsprachlichen Normen, doch zeigt er auf, dass es in der deutschen Sprache durchaus Grenz- und Zweifelsfälle, was die Substantivierung von Verben und ihre orthographische Darstellung betrifft. Konsequent wäre es, bei den vorliegenden Eigenschaften zu schreiben am essen, im Sinne der Schreibung der unstrittig verbalen Form zu essen, bei der essen selbstverständlich kleingeschrieben wird.
Möglicherweise werden sich Grammatiken der Standardsprache in naher Zukunft diesen Formen explizit widmen müssen, weil sie, wie Rödel zeigt, durchaus heute schon nicht mehr nur »rheinisch« sind: »Ich bin noch am überlegen, welche Sportart meine Mannschaft an diesem Abend ausgeübt hat. Fußball war’s mit Sicherheit nicht«, wird gleich zu Beginn der unzweifelhaft bayerische Franz Beckenbauer zitiert. Stichproben im Internet, die Rödel durchgeführt hat, zeigen wenig überraschend, dass Sprachbenutzer sich unsicher sind, ob in diesen Fällen Groß- oder Kleinschreibung angebracht ist. Wenn sich die Verlaufsform weiter ausbreiten sollte, müsste für sie eine stichhaltige Regelung erst noch gefunden werden.
GfdS