Verdrängt das Du das Sie?

CC-Lizenz; Collage: GfdS

Immer öfter werden wir im Alltag in Situationen ganz selbstverständlich geduzt, wo es noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre: in der Werbung, auf der Arbeit oder beim Einkaufen. Das gefällt bei Weitem nicht allen, manche fühlen sich davon eher vor den Kopf gestoßen. Denn nach wie vor gilt ein Sie als offiziell und distanziert, ein Du hingegen drückt Vertrautheit und Nähe aus.

Beim Thema höfliche Anrede gibt es keine festgeschriebenen Regeln. Es ist immer stark vom Kontext abhängig, wann, wem und wie man »das Du anbieten« darf, und es erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl. Faktoren wie Alter, Geschlecht, sozialer Status und das Verhältnis, in dem die Gesprächsteilnehmenden zueinander stehen, spielen eine wichtige Rolle. Es gilt: Unbekannte Personen sollte man zunächst siezen, damit ist man vor allem im beruflichen Umfeld auf der sicheren Seite, denn ein Sie drückt vor allem Respekt vor dem Gegenüber aus. Danach heißt es: Alt bietet Jung das Du an, Vorgesetzte den Angestellten und bei Gleichgestellten macht die Frau den ersten Schritt. Am Arbeitsplatz gelten (abhängig von der Unternehmensstruktur) mitunter andere Regeln als im hippen Streetfood-Shop um die Ecke. Und ja, man darf ein angebotenes Du auch ablehnen. Denn einmal beim Du angekommen, gibt es kaum ein Zurück zum Sie, ohne dem anderen vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig sollte man ein angebotenes Du auch nicht überbewerten. Nur weil man seine Vorgesetzten duzt, bleiben die Hierarchien trotzdem intakt.

Wenn Siezen höflich ist, heißt das, dass Duzen automatisch unhöflich ist? Oder dass an dem immer häufigeren Duzen ein Wandel erkennbar ist, weg von einem binären Höflichkeitssystem und hin zu einem, das bei den Anredepronomen keine Unterscheidung mehr kennt zwischen höflich und vertraut, wie wir es aus dem Englischen kennen? Beides ist zu verneinen, denn der Gebrauch der Anredepronomen hat sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht verändert. Dass es immer mehr Duz-Kontexte gibt, lässt sich vielmehr mit einem kulturellen als mit einem sprachlichen Wandel erklären. Dass in der Werbung oder am Arbeitsplatz geduzt wird, zeigt eher, dass sich das Verständnis des Verhältnisses von Anbietern und Kundschaft sowie Vorgesetzten und Angestellten in den letzten Jahren verändert hat.

Zudem ist die Unterscheidung zwischen Sie und Du keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal des Deutschen. Laut WALS (World Atlas of Language Structures) haben von 207 Sprachen, die auf das Merkmal Höflichkeitsmarkierung am Pronomen untersucht wurden, 49 ein binäres System wie das Deutsche, etwa Türkisch, Yoruba (gesprochen in Benin und Nigeria) oder die romanischen Sprachen. Nur 15 Sprachen haben ein komplexeres Höflichkeitssystem (z. B. Ungarisch, Litauisch oder Hindi) und sieben vermeiden Pronomen aus Gründen der Höflichkeit sogar komplett (z. B. Japanisch (hören Sie dazu auch unsere Wortcast-Folge zur Höflichkeit), Vietnamesisch oder Thai). Der überwiegende Teil (136 untersuchte Sprachen) kennt hingegen keine Unterscheidung der Pronomen nach Höflichkeit, bekanntestes Beispiel ist, wie schon erwähnt, das Englische (https://wals.info/feature/45A#2/23.1/149.1).

Wir sehen also keinen Grund dazu, sich Sorgen um das höfliche Sie zu machen. Und wem es nicht gefällt, allzu häufig geduzt zu werden, der kann auf ein unerwünschtes Du zurücksiezen oder bei Bedarf darauf hinweisen. Das reicht in der Regel aus, um die eigenen Grenzen beim Thema Höflichkeit abzustecken. Denn duzen mag familiär und meistens nett gemeint sein, aber bitte nicht um jeden Preis.

Weiterführende Informationen

Über die folgenden Links gelangen Sie zu weiteren Informationen auf unserer Internetseite, die sich mit dem Thema »Höflichkeit« beschäftigen:

Interview mit der Passauer Neuen Presse am 02.09.2020
Folge »Höflichkeit« des GfdS Podcasts Wortcast
Frage & Antwort zur Klein- und Großschreibung von Anredepronomen