Ausgabe: Der Sprachdienst 4–5/2018

Darf man einen Attentäter als Überlebenden bezeichnen?

[F] Wir finden es unangebracht, dass nicht nur die Opfer eines Anschlags, sondern auch Attentäter oder Terroristen in den Medien des Öfteren als Überlebende bezeichnet werden. Darf man einen Attentäter aus Ihrer Sicht als Überlebenden bezeichnen oder ist ein Überlebender immer auch ein Opfer?

[A] Das ist eine schwierige Frage, doch wir wollen versuchen, uns einer Antwort sprachlich über gängige Definitionen von Überlebender, aber auch Opfer und Täter anzunähern.

Grundsätzlich ist ein Überlebender laut Duden ›jemand, der ein Unglück überlebt hat‹ (vgl. Duden, »Das große Wörterbuch der deutschen Sprache«, 4. Aufl. Mannheim 2012). Ob die Person, die überlebt hat, gleichsam auch als Opfer einer von außen einwirkenden Gefahr anzusehen ist oder ob sie möglicherweise (Mit-)Schuld an dem Geschehen tragen könnte, geht aus dieser Definition nicht klar hervor. Eine noch wertfreiere Definition ist im Wahrig zu finden: Dieser versteht unter einem Überlebenden › jemanden, der nach einem Unglück, einer Naturkatastrophe o. Ä. noch lebt‹ (vgl. Wahrig, »Deutsches Wörterbuch«, München 2011). Dieser Definition zufolge kann das Lexem Überlebender als Bezeichnung für jede beliebige Person verwendet werden, die bei dem Unglück anwesend war und anschließend noch lebt – folglich auch für einen Attentäter –, wobei das »Überleben« an sich weder als passive noch aktive Handlung zu werten ist.

Dennoch gibt es im Sprachgebrauch immer bestimmte Konventionen und so kann mit dem Begriff Überlebender durchaus eine mögliche Opferrolle konnotiert sein, was sich vor allem aus den Bedeutungsebenen des zugrundeliegenden Verbs überleben erklären lässt. Überleben bedeutet in erster Linie ›länger leben als ein anderer oder anderes‹ (vgl. Duden). Diese Definition wird im Wahrig durch die Bedeutungskomponenten ›etwas lebend überstehen‹ oder ›lebend aus etwas (Gefahr) hervorgehen‹ erweitert. Wenn man überleben in diesem Sinne verwendet, scheint es eher unwahrscheinlich, dass der Überlebende die Gefahr selbst verursacht hat. Die Gefahr geht eher von etwas anderem aus, sie wirkt von außen ein. Dieser Zusammenhang zwischen dem Überlebendem und der Gefahr, in die er gerät, wird im »Deutschen Wörterbuch« noch stärker zum Ausdruck gebracht (vgl. Grimm, 1854 ff., Bd. 11). Hier wird überleben auch im Sinne von ›überwinden‹ verstanden, worunter eher das aktive Bewältigen einer Schwierigkeit oder eines Hindernisses gefasst ist; dabei werden Hindernis und Akteur wohl eher in einem oppositionellen Verhältnis zueinander gedacht.

Obwohl das Verb überleben demnach auch im Sinne von überwinden oder überstehen verstanden werden kann, gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Termini Überlebender und Opfer. So wird mit dem Begriff Opfer jemand bezeichnet, ›der durch jemanden, etwas umkommt, Schaden erleidet‹. Die Existenz eines Täters, welcher das Opfer in seine missgünstige Lage gebracht hat und Schuld an dem Unglück trägt, ist im Opferbegriff gewissermaßen schon inbegriffen, während sie beim Begriff des Überlebenden zwar eine hinreichende, allerdings keine notwendige Bedingung ist. Im Ausdruck jemandem, einer Sache zum Opfer fallen wird zudem noch die Passivität und Hilflosigkeit des Opfers gefasst, seine »Degradierung zum Objekt«, weshalb der Opferbegriff teilweise negativ belastet ist und in ethischen Debatten auch schon stark kritisiert wurde (vgl. Botz 1997).1

Noch stärker geht diese Passivität des Opferbegriffs aus seiner ursprünglichen, religiösen Semantik hervor: Der Begriff kommt nämlich aus dem kultischen bzw. religiösen Bereich und beschreibt die ›in einer kultischen Handlung vollzogene Hingabe von jemandem, etwas an eine Gottheit‹ (vgl. Duden). Diese Hingabe-Semantik kann auch deshalb als fragwürdig angesehen werden, weil sie »universelle Angebote [schafft], um Gewalttaten mit Sinn auszustatten« (vgl. Batelka 20172), etwa wenn sie im Namen des Glaubens vollbracht werden.

Auch in der Frage, in welchem Verhältnis Täter und Opfer zueinanderstehen und ob diese Rollenzuschreibungen möglicherweise reversibel sind, gibt es eine interessante Forschungsdebatte. Es wird auf die Möglichkeit hingedeutet, dass nicht immer ein »absoluter Antagonismus zwischen Täter und Opfer« existieren muss, zumal viele Täter zugleich auch Opfer seien und es nicht immer klare Grenzen zwischen einem gewaltausübenden Täter und einem gewalterleidenden Opfer gebe (vgl. Batelka). Insofern kann der Begriff des Überlebenden als wertfreiere, wertneutralere Variante zu Opfer angesehen werden. Dies ist jedoch lediglich eine Einschätzung aus sprachlicher Sicht; aus anderer Perspektive betrachtet ergeben sich möglicherweise ganz andere Deutungsansätze.


1 Gerhard Botz, Zur Problematik des ›Opfer‹-Begriffs, in: Zeitgeschichte im Wandel, Innsbruck 1997, S. 223–236, online verfügbar unter: www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/botz.pdf.
2 Philipp Batelka et al., Einleitung, in: Zwischen Tätern und Opfern, Göttingen 2017, als Leseprobe online verfügbar unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/zeitgeschichte-ab-1949/4585/zwischen-taetern-und-opfern