Woher kommt die Redewendung Holzauge, sei wachsam?
[F] Bei einem Besuch der Burg Harburg erklärte die Führerin die bekannte Redensart Holzauge, sei wachsam!? mit dem Hinweis auf Mauerdurchbrüche im Wehrgang, die mit einer Holzkugel verschlossen werden konnten. Diese Kugeln waren durchbohrt, sodass man nach außen sehen konnte; drehte man sie, waren die Öffnungen versperrt. Durch dieses Loch konnten die Verteidiger der Burg schießen, im anderen Fall durch Drehen der Kugel sich unsichtbar machen. Das Holzauge, so die Annahme, konnte also »wachsam« sein. Diese Deutung der Redewendung leuchtet an sich ein. Doch ist sie haltbar? Seit wann kennt man diese Redensart denn? Ich fand nur in den Lexika zur Umgangssprache von Heinz Küpper eine Erwähnung der Redensart, doch von jener durchbohrten Holzkugel schreibt er nichts.
[A] Ich teile Ihre Skepsis. Die Wörterbücher und Lexika, die die fraglichen Jahrhunderte einbeziehen, kennen die Redewendung Holzauge, sei wachsam! nicht, ebenfalls die großen traditionellen Sprichwörtersammlungen sowie Lutz Röhrich, der ja Sprichwörter und Redensarten auch bis ins Mittelalter zurückverfolgt. Da jenes für die Burg Harburg (eigentlich nur für diese Burg) bezeugte Holzauge, also die durchbohrte Holzkugel, freilich den Schießscharten (speziell Kugelschießscharten) zuzurechnen ist, vor allem der bewaffneten Verteidigung diente, nicht dem Sehen und Beobachten, und weil schriftliche Belege erst aus viel späterer Zeit vorliegen, ist die Wendung Holzauge, sei wachsam! anders zu erklären. Diese Ansicht teilt auch Dr. Jens Friedhoff vom Deutschen Burgeninstitut (Braubach).
Korrekt immerhin ist dieser www-Eintrag zur Harburg, der nicht Gewissheit, sondern »Vermutung« zu erkennen gibt: »Beim Betreten des Wehrgangs stößt man auf zwei Einzigartigkeiten: Treppen aus vollem Holz und sogenannte Kugelschießscharten. Die Kugelschießscharten sind Erfindungen aus der Zeit der ersten Büchsen (Vorläufer von Gewehren). Sie bestehen aus einer Kugel aus Holz, durch die ein Loch führt. Die Kugel ist eingefasst in einem entsprechenden Loch in der Wand. Die Konstruktion lässt sich in der Wand in alle Richtungen drehen und die darin steckende Waffe in alle Richtungen abschießen. Man vermutet [!], dass der Spruch Holzauge sei wachsam hier entstanden ist, da die Kugelschießscharte einem überdimensionalen Holzauge gleicht.«
Das Substantiv Holzauge ist freilich schon im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnet (Band 4.2, 1877): »ein nicht fruchtbringendes auge vom alten holz der reben oder anderer zweige«, und ein entsprechender Eintrag findet sich im Südhessischen Wörterbuch (Band III, 1973-1977): Holzauge meint in der Winzersprache die »Blattknospe, die nur Reben ohne Fruchtansatz, spätes Holz, bringen wird«; weiterhin heißt es allgemein: »Glatt gehobelte Bretter weisen oft kleine augenähnliche Stellen auf, die auf die Bildung von Adventivsprossen zurückzuführen sind.« Eine Verbindung zum fraglichen Ausdruck lässt sich also kaum feststellen.
Holzauge, sei wachsam! wird noch in anderen Dialektwörterbüchern erwähnt, so im brandenburg-berlinischen (Band II, 1985) und im preußischen (begonnen 1911, gedruckt ab 1935: Band 2, 1981: Holzoog, si wachsoam!); leider ohne Zeitangaben und als »vereinzelt« und »in Redensarten«.
Vorsichtig ist die Dudenredaktion in ihrem neuen Nachschlagewerk Das große Buch der Zitate und Redewendungen, Mannheim 2007): »Die Herkunft der seit dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlichen Wendung ist nicht sicher geklärt. […] Im umgangssprachlichen Gebrauch wird die Redewendung als Mahnung oder Aufforderung verstanden, wachsam zu sein.«
Nähere Ausführungen bietet allein Heinz Küpper, zuletzt im Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Band 3, 1983) -, und ich zitiere ausführlicher, da der Autor konkrete Hinweise bietet: »Holzauge 1. scharfes Auge. […] Soldatensprache 1939 ff.; 2. gewitzter Mann. Bundessoldatendeutsch 1965 ff.; 3. Kamerad Holzauge = deutsches Aufklärungsflugzeug. Soldatensprache 1939 ff.; 4. Holzauge machen = a) die tiefer fliegenden Maschinen bewachen; den Begleitschutz eines Jägers beim Angriff übernehmen. […] 1935 ff., fliegersprachlich – b) vom Mitschüler absehen (abschreiben). Schülersprache nach 1945. 5. Holzauge, sei wachsam! = gib acht, daß man dich nicht übertölpelt oder hintergeht. Dabei wird mit dem Zeigefinger das Unterlid eines Auges herabgezogen. Nach weitverbreiteter Soldatenmeinung ist mit Holzauge der Blick durch ein Astloch (im Bretterzaun) gemeint: man sieht, ohne gesehen zu werden. Übrigens nannte man Holzauge auch das runde Hoheitsabzeichen an der Tragfläche britischer Flugzeuge. Soldatensprache 1935 ff. 6.: wen sieht mein Holzauge? = wen sehe ich da? Soldatensprache 1939 ff.«
Zu Küppers Eintrag 5 passt gut eine Stelle aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (Band 1, 1854, Sp. 99): »umgekehrt tritt auge, wie ohr, über in die noch sinnlichere Vorstellung der öfnung, des lochs. für fenster bediente sich die ahd. sprache des ausdrucks augatora […], gleichsam schaut das haus durch ein fenster wie der mensch durch sein auge. […] noch heute nennen wir eine art von dachfenstern ochsenaugen, weil sie sich krümmen, gleich dem auge des rindes. auge heiszt das loch in der thür zum durchschauen, oder das astloch im bret. […] im käse, im brot sind augen, das nadelloch wird bald nadelöhr, bald nadelauge genannt«. Auge im Sinne von ›Loch‹ käme also als Benennungsmotiv durchaus in Betracht.
Nach Küppers Belegen scheint aber die Herleitung von Holzauge, sei wachsam! aus der Soldatensprache des 20. Jahrhunderts wahrscheinlicher. Erwähnt hat er die Wendung auch in Am A… der Welt. Landserdeutsch 1939-1945 (Hamburg 1970) sowie in dem früheren Band II des Wörterbuchs der deutschen Umgangssprache (Hamburg 1963, S. 141), und die formulierte, später nicht mehr publizierte Erklärung ist aufschlussreich: »Holzauge meint eigentlich das künstliche Auge in Anlehnung an Holzbein, also mit Anspielung auf prothesentragende Soldaten. Zwischen 1930 und 1940 aufgekommen.«
Dass Holzauge in der drastischen Soldatensprache als Analogie zu Holzbein geprägt sein könnte, scheint mir plausibel. Schon im Ersten Weltkrieg kam es zu unzähligen schlimmen Verwundungen und Verstümmelungen.