Ausgabe: Der Sprachdienst 6/2013

Geschlechtsspezifizität von landsmannschaftlich

[F] Da es meiner Meinung nach eine geschlechterbewusste Fassung des Grundgesetzes (GG) geben sollte, bin ich dabei, eine solche auszuarbeiten: Die Wendung »landsmannschaftliche Verbundenheit« in Artikel 29 Absatz 1 Satz 2 GG möchte ich ersetzen durch »Verbundenheit der Vertriebenenverbände«, »ihre besonderen landsmannschaftlichen Verhältnisse« in Artikel 36 Absatz 2 GG durch »ihre besonderen landesmenschenschaftlichen Verhältnisse«. Was halten Sie davon?

[A] Bei Ihrem Vorschlag für Artikel 29 Absatz 1 Satz 2 GG müssen Sie die Bedeutung von landsmannschaftlich an dieser Stelle und den Kontext – es geht um die Neugliederung des Bundesgebietes – berücksichtigen. Dieter C. Umbach und Thomas Clemens vermerken in ihrem Kommentar zum Grundgesetz (Heidelberg 2002, Bd. 1, S. 1693, Rn. 59):

»Die landsmannschaftliche Verbundenheit charakterisiert die heimatliche, sprachlich-mundartliche und gebietsbezogene Zusammengehörigkeit und ein entsprechendes Gefühl des Zusammengehörens einer Personengruppe. Die landsmannschaftliche Verbundenheit ist keine statische Größe. Sie kann im Laufe der Zeit Änderungen unterliegen. Als Kriterium einer Neugliederung ist gleichwohl nur die im Zeitpunkt der Neugliederung vorhandene Verbundenheit einschlägig.«

Birgit Wilhelm schreibt in ihrem Buch »Das Land Baden-Württemberg: Entstehungsgeschichte – Verfassungsrecht – Verfassungspolitik« (Köln 2007, S. 69 f.):

»Die landsmannschaftliche Verbundenheit umfaßt alle nicht faßbaren, in Jahrhunderten gewachsenen Gebilde und Werte, die ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein schaffen, in dem politisch-historische Zusammenhänge weiterwirken. Keineswegs ist die landsmannschaftliche Verbundenheit der Stammesverbundenheit gleichzusetzen. Der Abgeordnete von Mangoldt wies darauf hin, daß im Parlamentarischen Rat mit ›Landsmannschaft‹ ein umfassenderer Ausdruck für das gewählt sein sollte, was die Weimarer Verfassung in ihrer Präambel, wenn auch enger, mit dem Wort ›Stämme‹ bezeichnet hatte. Die landsmannschaftliche Verbundenheit bezieht sich auf im Zusammengehörigkeitsbewußtsein weiterwirkende historisch-politische Zusammenhänge. Insofern ist dieser Begriff eng mit dem Begriff der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge verwoben. Das Gefühl der Verbundenheit muß im Zeitpunkt der Neugliederung vorhanden sein. ›Landsmannschaftlich‹ ist nicht identisch mit ›einem Land zugehörig‹, sondern kann sowohl eine Personengruppe innerhalb eines Landes wie eine über den Bereich eines oder mehrerer Bundesländer hinausgreifende Gruppe erfassen.«

Wie die angeführten Stellen zeigen, verfehlt es also den Sinn, in diesem Kontext von »Vertriebenenverbänden« zu sprechen. Auch Ihren Vorschlag, in Artikel 36 Absatz 2 GG »landesmenschenschaftlich« zu schreiben, beurteile ich kritisch. In unserer Sprachgemeinschaft ist das Wort (noch?) nicht gängig. Da sich die Bedeutung des Wortes nicht ohne Weiteres erschließt, würde das Textverständnis an dieser Stelle beeinträchtigt. Der »Landesmensch« müsste sich zunächst einmal sprachlich etablieren, bevor er in einem so grundlegenden Text wie dem Grundgesetz seinen Platz findet. Das Grundgesetz sollte standardsprachlich etablierte Wörter enthalten und nicht versuchen, Vorreiter für bestimmte sprachliche Entwicklungen zu sein.