Verwendung von Lebensraum
[F] Kürzlich benutzte ich das Wort Lebensraum in einer Textanalyse. Es ging darum, dass der Leser nicht erfuhr, in welchem Lebensumfeld sich eine bestimmte Person in diesem Stück befindet, und so schrieb ich, dass wir nicht wissen, in welchem Lebensraum er sich bewegt. Ich wurde darauf hingewiesen, das Wort Lebensraum nicht zu benutzen, da es aus der nationalsozialistischen Zeit negativ besetzt sei. Sensibilisiert, fiel mir dieses Wort kurz darauf in einer Fernsehsendung auf – hier ging es um den Lebensraum bestimmter Tiere. Können Sie mir etwas zu diesem Thema sagen?
[A] Dass das Wort Lebensraum in der nationalsozialistischen Propaganda eine Rolle gespielt hat, steht außer Frage. Einige Sprachwissenschaftler/- innen haben daraus in der Tat die These abgeleitet, dass man Lebensraum (neben anderen ideologisch »vorbelasteten« Wörtern) heute nicht mehr neutral verwenden könne.
Als Beispiel mag der folgende Auszug aus der Linguistik der Lüge von Harald Weinrich dienen, wo es heißt: »Nie haben Schlagworte hemmungsloser die Szene beherrscht als in der Hitlerzeit. Ist die deutsche Sprache dadurch eine Sprache der Lügen geworden? […] Es besteht kein Zweifel, daß Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, selber verlogen werden. Man versuche nur, solche Wörter wie ›Weltanschauung‹, ›Lebensraum‹ und ›Endlösung‹ in den Mund zu nehmen: die Zunge selber sträubt sich und spuckt sie aus. […].« (Harald Weinrich: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1966; hier: S. 33 ff.).
Diese Position aber erscheint aus heutiger Sicht als zweifelhaft und trifft – zumindest mit Blick auf das Wort Lebensraum – nicht zu: Anders als z. B. das auch von Weinrich erwähnte Endlösung löst Lebensraum heute nicht mehr automatisch die Assoziation Nationalsozialismus aus. Das liegt daran, dass es in vielen Zusammenhängen gebräuchlich ist, die mit Krieg und Faschismus gar nichts zu tun haben.
So nennt die Internet-Enzyklopädie Wikipedia fünf verschiedene Bedeutungen bzw. Verwendungsweisen von Lebenraum, von denen eine zum Beispiel der Biologie und Ökologie zuzuordnen ist: »Habitat (Neutrum, v. lat.: habitare = wohnen) bezeichnet im allgemeinen den Lebensraum einer Lebewesenart«. Ob das Wort Lebensraum Erinnerungen an den Nationalsozialismus weckt oder nicht, hängt also stark davon ab, wie und in welchem Kontext es verwendet wird. Eine pauschale Ablehnung des Wortes scheint uns daher nicht gerechtfertigt zu sein.
Zur Untermauerung zitieren wir einige Stellen aus der Presse, die den heutigen Gebrauch von Lebensraum anschaulich machen:
»Die US-Regierung erwägt, Eisbären zu bedrohten Tieren zu erklären. Die Experten der Naturschutzbehörde befürchten, dass die Raubtiere dieses Jahrhundert nicht überleben – weil ihr eisiger Lebensraum im Nordpolarmeer schon bald aufgetaut sein könnte.« (Spiegel online, 8. 2. 2006)
»Die Neandertaler waren keine Hinterwäldler, sondern viel unterwegs. Jagen und Sammeln als Lebensform erzwingt es geradezu, nicht nur den eigenen Lebensraum zu kennen, sondern auch den in der Nachbarschaft, sogar den einige hundert Kilometer weiter weg.« (Die Zeit, 12. 1. 2006)
»Baumkänguruhs sind vom Aussterben bedroht, da ihr Lebensraum durch die großflächige Abholzung des Regenwaldes in Papua-Neuguinea rasch schwindet.« (Welt online, 4. 2. 2006)
»Der Lebensraum Küche ist wieder das, was er schon zu Großmutters Zeiten als ›gute, alte Stube‹ war: Zentrum der Kommunikation mit Familie oder Freunden.« (HR online, 7. 2. 2006)