Muttersprache 4/2017
Nils Langer
Regionale Mehrsprachigkeit: Zur Einführung in das Themenheft
Geraldine Horan
Nicht nur zur Karnevalszeit: Die diskursive Konstruktion des kölschen Dialektes als Erst- und Zweitsprache
Der Kölner Stadtdialekt, »Kölsch«, der nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch in der näheren Umgebung gesprochen wird, ist sehr viel mehr als nur Mittel zur sprachlichen Kommunikation. Er wird häufig mit örtlichen kulturellen Ereignissen und Veranstaltungen assoziiert, wie zum Beispielmit Karneval, Theateraufführungen, Fußball- und Eishockeyspielen, und stellt somit ein typisches Beispiel für eine Instrumentalisierung von lokaler Sprache dar, für eine symbolische oder emblematische Verwendung bekannter, teilweise klischeehafter Sprüche, die die Zugehörigkeit zurStadt und zu ihren Traditionen signalisiert (Agha 2003; Reershemius 2011; Horan 2016). In diesem Aufsatz werden die Rolle und Funktion des Kölschen unter besonderer Berücksichtigung der diskursiven Konstruktion des Dialektes in der Öffentlichkeit behandelt. Anhand von Liedtexten und Zeitungsartikeln wird aufgezeigt, wie der Dialekt nicht nur als Erstsprache, sondern auch als Zweitsprache für Einheimische und Neuankömmlinge dargestellt wird. Kölsch wird definiert, kodifiziert, als eigenständige Sprache beschrieben und zugleich auch als Ware und Freizeittätigkeit angeboten (Straßner 1986). Die sprachlichen Eigenheiten des Kölschen werden heute somit deutlich anders präsentiert und rezipiert als noch vor wenigen Jahrzehnten.
»Kölsch«, the dialect spoken in the city of Cologne and the surrounding area, is much more than a language variety. It has close associations with cultural events taking place in the city, including Lentern carnival celebrations, theatre performances, football and ice-hockey matches, and provides a typical example of the instrumentalisation of a local language variety, one which draws on the symbolic or emblematic use of well-known, at times clichéd phrases to signal identification with the city and its traditions (Agha 2003: Reershemius 2011: Horan 2016). This article explores the role and function of the Cologne dialect with a particular focus on its discursive construction in public discourse. An analysis of selected song lyrics and newspaper articles reveals that Kölsch is characterised as both a first and second language for natives and recent arrivals to the city alike. The dialect is defined and codified as a language, but one that is now also a commodity and an object of interest as a hobby or leisure activity (Straßner 1986). As such, there has been a marked shift in the portrayal and reception of Kölsch compared with previous decades.
Viola Wilcken
»Das kanns haam …« – Missingsch in aktuellen Radio- und Fernsehproduktionen
Das norddeutsche Sprachgebiet ist seit Jahrhunderten geprägt durch ein Neben- und Miteinander von verschiedenen Sprachen und Dialekten. In besonders engem Kontakt standen und stehen bis heute das autochthone Niederdeutsch und das Hochdeutsche, das seit dem Zweiten Schreibsprachenwechsel im norddeutschen Raum präsent ist und sich im Laufe der Jahrhunderte zur dominierenden Varietät entwickelt hat. Das in dieser Region gesprochene Hochdeutsch ist allerdings seit jeher mehr oder weniger geprägt durch das niederdeutsche Substrat. Als besonders charakteristische, stark interferierte Mischvarietät bildete sich dabei u. a. das sogenannte Missingsch heraus, das in spontan gesprochener Sprache heute höchstens noch vereinzelt auftritt. In literarischen oder medialen Inszenierungen ist dieses norddeutsche Sprachgemisch aber weiterhin populär. Im vorliegenden Beitrag werden aktuelle Missingsch-Inszenierungen in Film, Fernsehen und Radio analysiert. Dabei stehen die sprachlichen Merkmale des medial verarbeiteten Missingsch ebenso im Fokus wie mögliche Funktionalisierungen und Bewertungen durch die Rezipienten.
The northern German language region is characterized by the coexistence of several languages and dialects as it has been for hundreds of years. In particularly close contact were and are Low German, an autochthonous language, and High German, a language introduced as a primarily written language in the Early Modern period. Over the years High German has become the dominant variety. However, the Low German substratum strongly influenced this regional High German. As a result, a strongly interfered hybrid language, Missingsch, emerged, often perceived as »faulty« High German and nowadays rarely heard in spontaneous speech. It is still present, however, in literature and the media. This article provides an analysis of Missingsch in recent films and TV and radio shows. The central aspects of the analysis are the linguistic features, the functionalization of the variety, and the evaluation by the recipients.
Saskia Schröder
Die Wahrnehmung und Verortung des »Deutschen« in der Schweiz durch seine Sprecherinnen und Sprecher
Was ist Deutsch und wo spricht man es? Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das klar zu definieren, aus der Sicht jener, die Deutsch sprechen, es aber nicht studiert haben, ist die Frage mitunter nicht einfach zu beantworten. Als besonders facettenreich stellt sich die Charakterisierung des Deutschen insbesondere dann heraus, wenn Sprechende befragt werden, die in ihrer Umgebung permanent mit verschiedenen Varietäten und Sprachen in Kontakt kommen. Ein solcher Fall liegt beispielsweise mit der mehrsprachigen Schweiz vor (vgl. u. a. Berthele 2010; Christen 1998). Sie sticht aus germanistischer Perspektive vor allem auch durch ihre Diglossie zwischen Hochsprache und Dialekt hervor. Wie wird diese sprachlich komplexe Situation durch seine Sprecherinnen und Sprecher wahrgenommen? Der Beitrag wird exemplarisch anhand der Schweizer Städte Luzern und Zürich zeigen, wie »Deutsch« durch seine Sprechenden sowohl lokal als auch großräumig wahrgenommen und verortet wird. Ein Schwerpunkt liegt dabei auch auf der Methodik, die zur Erhebung laienlinguistischer Wissensbestände verwendet werden kann.
This article addresses the question of speakers’ metalinguistic awareness of regional language diversity. It discusses data from German-speaking Switzerland, collected as part of a large research project on perceptual dialectology. Faced with exceptional linguistic diversity and a prominent and well-known diglossia between local dialect and Swiss Standard German, the informants use both geographical and societal-political criteria in their reflections on the linguistic space in their region and country. The article applies to major data collection task which yield significantly different results.
Joseph Salmons
»Keineswegs Feinde der englischen Sprache«: Deutsch, Englisch und Schulpolitik in Wisconsin
Im amerikanischen Mittelwesten des 19. Jahrhunderts fungierte das Deutsche in vielen Gemeinden als die Hauptsprache, während das Englische eher eine Sprache einer Außenwelt war. Das Standarddeutsche wurde weit und breit in institutionellen Kontexten verwendet – z. B. in Schulen, Kirchen und in der Presse. Der vorliegende Aufsatz untersucht den langwierigen Kampf um die Stellung der deutschen Sprache vor allem im Bildungssystem im Bundesstaat Wisconsin, von der Zeit der Etablierung deutschsprachiger Schulen, Predigerseminare und ähnlicher Institutionen bis zum Übergang zum Englischen. In überraschender Weise stellten manche in solchen Gemeinden in Frage, ob eine englische Schuldausbildung nötig sei, und viele sahen die deutsche Sprache in jeder Hinsicht als ebenbürtig an. Sogar zu Zeiten, wo Deutsch als eine Gefahr für das Englische und amerikanische Nationalidentität geschildert wurde, verharrten diese Institutionen und Denkweisen viel länger als bisher bekannt.
In the American Midwest of the 19th century, German functioned as the main language in many communities, and English was consigned to being the language of an outside world. Standard German was widely used in institutional settings – schools, church and the press, for instance. This essay examines the protracted struggle over the position of German particularly in education in Wisconsin, covering the period from the establishment of German-language schools, seminaries and other institutions to the shift to English in institutions. To a surprising extent, some in these communities early on questioned the need for English education and many saw German as a language equal to English in all regards. Even when German was portrayed as a threat to English and to American national identity, these institutions and this mindset persisted far longer than was widely known.
Timothy C. Jacob-Owens
Unsichtbare Sprachenvielfalt in Nordfriesland: Nordfriesisches Hochdeutsch aus diasystematischer Perspektive
Dieser Artikel untersucht den nordfriesisch-hochdeutschen Sprachkontakt aus diasystematischer Perspektive und beschäftigt sich insbesondere mit dem im 19. Jahrhundert in Nordfriesland gesprochenen bzw. geschriebenen Hochdeutsch. Anhand eines kleinen Korpus handschriftlicher privater Briefe, die zwischen 1839 und 1851 von Nordfriesen auf und zu der Insel Amrum geschrieben wurden, werden eine Reihe von Sprachkontaktphänomenen in den Bereichen Morphologie, Syntax und Lexik diskutiert. Mit dieser Untersuchung der kontaktbedingten Merkmale des nordfriesischen Hochdeutschen stellt sich der Aufsatz zum Ziel, die »unsichtbare« Sprachenvielfalt Nordfrieslands im 19. Jahrhundert sichtbar(er) zu machen und dadurch eine neue Perspektive auf die Sprachgeschichte der Region anzubieten.
This article investigates North Frisian High German language contact from a diasystematic perspective, focusing in particular on the High German written and/or spoken in 19th-century North Frisia. Drawing on a small corpus of handwritten private letters written between 1839 and 1851 by North Frisians on and to the island of Amrum, the article examines a series of language contact phenomena in the domains of morphology, syntax, and lexis. Through this investigation of contact-induced variation in »North Frisian High German«, the article aims to »visibilise« the hitherto »invisible« linguistic diversity of 19th-century North Frisia, thereby offering a new perspective on the language history of the region.
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