Juni 2018

Sprache – Politik – Verantwortung

Welche Bedeutung hat Sprache im politischen Diskurs? Welche Gefahren birgt es, wenn kritische Berichterstattung und argumentativer Diskurs als Fake diffamiert und ›alternative‹ Wahrheiten über Bots und Trolle verbreitet werden? Und was kann (linke) Politik dagegen tun? Dr. Gregor Gysi, Mitglied des Bundestages und ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, stellt sich den Fragen des Vorsitzenden der Gesellschaft für deutsche Sprache, Prof. Dr. Peter Schlobinski.1

© DIE LINKE im Bundestag

Peter Schlobinski: Herr Gysi, Sie gelten als wortgewandter und schlagfertiger Politiker, letztes Jahr wurden Sie zum Ordensritter ,wider den tierischen Ernst‘ geschlagen. Sie sind wie ich ›waschechter‹ Berliner – wie hat das Berlinische, die ›Berliner Schnauze‹ Ihre Sprachbiografie geprägt?

Gregor Gysi: Seinen Dialekt verliert man nie so ganz, selbst wenn man ihn kaum noch hört. Das Direkte, Unverblümte, sich selbst auch auf die Schippe Nehmende des Berlinischen hat meine Sprache schon geprägt. Es passt zu mir, ich fühle mich wohl damit. Es schadet auch nicht, dass Berlinerinnen und Berliner selbstbewusst und durchsetzungsfähig sind.

Im Jahr 2013 sind Sie als der beste politische Redner vom Verband der Redenschreiber deutscher Sprache ausgezeichnet worden. Welche Bedeutung hat für Sie Sprache im politischen Diskurs?

Wie sollte denn dieser Diskurs ohne Sprache funktionieren? Entscheidend dafür, dass sich möglichst viele Menschen für Politik interessieren und sich am Diskurs beteiligen, ist die Verständlichkeit. Man muss das Politische so übersetzen, dass auch diejenigen, die sich nicht halbe Tage mit den Winkelzügen der Politik beschäftigen können, wissen, worum es geht und wie es sie persönlich betrifft.

Entscheidend dafür, dass sich möglichst viele Menschen für Politik interessieren und sich am Diskurs beteiligen, ist die Verständlichkeit.

Diese Übersetzungsleistung wird leider zu selten erbracht. Mitunter könnte man meinen, die Politik versteckt sich hinter besonders gedrechselten Formulierungen. Außerdem ist die deutsche Sprache der entscheidende Ausdruck unserer Kultur.

Im selben Jahr sind Sie Oppositionsführer im Deutschen Bundestag geworden. Welche Möglichkeiten bietet, aber auch welche Grenzen setzt die Position des Oppositionsführers, ›nur‹ in erster Linie über Ansprache, Reden und in Diskussionen im Parlament wirken zu können? Wenn doch der Bundestag »ein Meister im Verschleiern der Probleme [ist]«.2

Ein Oppositionsführer muss im Parlament, in Öffentlichkeit und Medien der anerkannt gewichtigste Widerpart der Regierung sein. Da spielen Reden im Parlament eine große Rolle, aber eben auch die politische Innovationskraft, die deine Partei ausstrahlt. In der Opposition wirkt man ja besonders dadurch, dass man den Zeitgeist verändert, so wie uns das beim Mindestlohn gelungen ist. Als ich den Mitte der 1990er-Jahre zum ersten Mal gefordert habe, waren bis auf drei Gewerkschaften alle dagegen. 20 Jahre später konnte ich als Oppositionsführer erleben, wie selbst die Union ihren Widerstand aufgeben musste.

Welche Bedeutung hat es für die parlamentarische Debatte, dass nunmehr die AfD als stärkste Oppositionspartei Oppositionsführer ist?

Die AfD stellt – leider – die stärkste Oppositionsfraktion, Oppositionsführerin wird sie nicht werden, dazu fehlen ihr die Voraussetzungen. Das entscheidet sich nicht an der Lautstärke oder der vermeintlich radikalsten Formulierung, sondern daran, wem zugetraut wird, mit seinen Ideen und Vorschlägen eine sinnvolle, potenziell mehrheitsfähige Alternative zur Regierungspolitik zu sein. Die anderen Fraktionen sollten der AfD nicht die Gelegenheit bieten, den Ton der Debatte zu prägen, auch wenn sie als Erste nach der Kanzlerin spricht.

Die AfD befindet sich im Aufwind, die großen Volksparteien schwächeln bei Wahlen. Wie sehr hängen Wahlerfolg oder Wahlschlappe Ihrer Meinung nach von der Kommunikation und der Sprache der Kandidaten ab?

Kommunikation und Sprache sind ohne Zweifel wichtig, aber für einen Wahlerfolg oder -misserfolg nicht unbedingt ausschlaggebend. Ich denke, dass nicht wenige ihrer Wählerinnen und Wähler die AfD trotz ihrer braunen Töne gewählt hat, weil sie das Signal aussenden wollten: Vergesst uns nicht! Seit 2002 haben die Bundesregierungen von Rot-Grün über Schwarz-Gelb bis Schwarz-Rot zugelassen und sogar befördert, dass sich die soziale Spaltung im Land immer weiter vertieft. Das ist der Boden, auf dem die AfD aufzutrumpfen versucht, ohne jedoch wirklich Lösungen anzubieten.

Zunehmend kritisch diskutiert und belastet gesehen wurde in den letzten Jahren das Verhältnis der Bürger und ihrer gewählten Volksvertreter. Stichwort: Politikerverdrossenheit. Welchen Anteil hat die Sprache der Politiker an dieser Entfremdung? Ist die politische Sprache unverständlich oder gar elitär und sind deshalb die ›klaren‹ Worte einiger Parteien so erfolgreich?

Politische Entscheidungsprozesse sind zweifellos komplexe Vorgänge, die eine immer kompliziertere gesellschaftliche Entwicklung zu steuern versuchen. Umso wichtiger ist es, dass sich die Politik sowohl sprachlich als auch strukturell darum bemüht, dass ihr Agieren verständlich und transparent ist. Voraussetzung ist allerdings, dass die Politik wieder das Primat beansprucht und sich nicht von den Großkonzernen und Großbanken ihre Entscheidungen diktieren lässt. So kann man etwa die wachsweiche Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Aggressor Türkei oder gegenüber den Autokonzernen in der Dieselfrage auch nicht mit der verständlichsten Sprache schönreden.

Politische Entscheidungsprozesse sind zweifellos komplexe Vorgänge, die eine immer kompliziertere gesellschaftliche Entwicklung zu steuern versuchen. Umso wichtiger ist es, dass sich die Politik sowohl sprachlich als auch strukturell darum bemüht, dass ihr Agieren verständlich und transparent ist.

Die angeblich klaren Worte einiger Parteien sind beim näheren Hinsehen lediglich der Versuch, mit der Präsentation von Sündenböcken einfache Lösungen zu suggerieren, die in eine gefährliche Irre führen.

Wir können in vielen Gesellschaften einerseits einen zunehmend lockeren Umgang mit der Wahrheit beobachten, andererseits einen Niedergang von Formen des respektvollen Umgangs. Zum ersten Punkt: Im Zeitalter von Fake News werden ja nicht nur Fakten relativiert, sondern kritische Berichterstattung und argumentativer Diskurs als Fake diffamiert und ›alternative‹ Wahrheiten über Bots und Trolle verbreitet. Welche Gefahren sehen Sie in dieser Entwicklung und was kann (linke) Politik dagegen tun?

Immer wieder aufklären und klare Kante zeigen gegen Lügen. In der Tat besteht die Gefahr, dass über die sozialen Medien und entsprechende elektronische Mittel die gesellschaftliche Kommunikation in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, dass nachprüfbare Fakten weniger eine Rolle spielen.

Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen aber dennoch sehr positiv reagieren, wenn man Sachverhalte wirklich erklärt und Zusammenhänge darstellt. Das macht Mühe, aber einfacher ist eine sachliche und respektvolle Kommunikation nicht zu haben.

In einer Situation zunehmender Versicherung wird nahezu alles für möglich gehalten, sodass Fake News schnell Verbreitung finden. Die Berichterstattung über die angebliche Schmutzkampagne in der SPD durch BILD zeigt, dass dies auch vor etablierten Medien nicht Halt macht. Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen aber dennoch sehr positiv reagieren, wenn man Sachverhalte wirklich erklärt und Zusammenhänge darstellt. Das macht Mühe, aber einfacher ist eine sachliche und respektvolle Kommunikation nicht zu haben.

Auf der anderen Seite toben Shitstorms durch die sozialen Medien und viele, besonders junge Menschen wurden schon online gemobbt. Flüchtlinge werden als »Sozialschmarotzer« und Politiker als »Volksverräter« beschimpft. Letztere keilen gelegentlich zurück (»Pack«) und wollen der Opposition eins »in die Fresse« geben. Wo liegt die Grenze zwischen einem angemessenen, respektvollen Sprachgebrauch und einem, der nicht angemessen und respektlos ist? Und wo liegt Ihrer Meinung nach die Grenze zwischen Meinungsfreiheit, dem Recht auf freie Sprache, und der Einschränkung der Meinungsfreiheit aufgrund diffamierender, verletzender Sprache? Wie tolerant darf oder muss eine Gesellschaft gegenüber der Sprache des Hasses und der Hetze sein?

Ich kann das menschlich durchaus verstehen, wenn einem die Hutschnur hochgeht bei all dem Hass und der Hetze. Aber man darf sich darauf nie mit gleichem Vokabular einlassen. Ich habe mir Anfang der 1990er-Jahre, als ich zum Teil bespuckt worden bin bei öffentlichen Auftritten, gesagt, dass ich nicht zurückhassen werde. Das halte ich auch heute noch so. Natürlich darf es gegen Hass und Hetze keine Toleranz geben, weil damit ein Klima geschaffen wird, in dem dann aus verbaler Gewalt schnell auch körperliche Gewalt werden kann. Aber man darf dabei selbst nicht die Grenze überschreiten und verletzend sein.

Das Gegenteil von Sprechen ist Schweigen, und Wissen zurückhalten kann eine Form der Lüge sein. Wieviel Wahrheit darf dem Staatsbürger zugemutet werden? Müssen im politischen Kontext Sachverhalte verschwiegen werden, und wenn ja, welche?

Der Souverän ist das Volk, nicht die Parlamente und schon gar nicht die Bundesregierung. Natürlich kann man über Verhandlungen, um zum Beispiel Menschen aus dem Gefängnis einer Diktatur zu bekommen, nicht überall sprechen. Aber wenn ich mir anschaue, wie oft die Opposition beim Bundesverfassungsgericht klagen muss, damit die Bundesregierung ihre Fragen beantwortet, übertreibt es die Bundesregierung mit ihrer Verschlossenheit. Dies aufzubrechen ist eine wichtige Aufgabe der Opposition. Insgesamt gesehen sollten die Bürgerinnen und Bürger umfangreicher informiert und direkter in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dass es in Deutschland nach wie vor keine Volksgesetzgebung auf Bundesebene gibt, zeigt den großen Nachholbedarf, den es in dieser Beziehung gibt.

Man hört in unserer Gesellschaft immer häufiger den Ruf nach Verantwortung, sei es die humane Verantwortung für Kriegsflüchtlinge, die staatspolitische Verantwortung, Regierungsverantwortung zu übernehmen,3 die Verantwortung eines jeden Einzelnen, die Spielregeln des sozialen Miteinanders einzuhalten, usw. Verantwortung ist eine moralische Schlüsselkategorie in unserer modernen Diskursgesellschaft. Aber spiegelt sich in dem immer häufiger zu beobachtenden Anmahnen von Verantwortung nicht eine gewisse Hilflosigkeit, eine »Verzweiflungsgeste« wider, wie es der Soziologe Niklas Luhmann einmal formuliert hat?4 Und welche Rolle nehmen Sie im Hinblick auf eine am Wohl der Gesellschaft und des freiheitlichen Staates orientierten Diskursethik ein?

Es stimmt, der bloße Appell an die Verantwortung wird schnell zur leeren Hülse. Sie muss vor allem von der Politik vorgelebt werden. Gerade in der von Ihnen angesprochenen Flüchtlingsfrage hat die Bundesregierung Länder, Kommunen und Hunderttausende ehrenamtliche Helferinnen und Helfer allein gelassen, ihre Verantwortung also abgeschoben. Wobei in der Politik Verantwortung keine Regierungsfrage ist, sondern eine Haltung. Ohne Opposition funktioniert die Demokratie nicht. Deshalb nimmt eine ideenreiche, kämpferische und kritische Opposition gleichermaßen ihre Verantwortung wahr. Dies muss sich auch im politischen Diskurs widerspiegeln. Es hilft wenig, als Opposition nur auf Krawall zu machen. Die eigenen Vorschläge müssen etwas taugen.

Ohne Opposition funktioniert die Demokratie nicht. Deshalb nimmt eine ideenreiche, kämpferische und kritische Opposition gleichermaßen ihre Verantwortung wahr.

Der argentinische Polittheoretiker Ernesto Laclau hat in seinem Buch über den Populismus die These formuliert, dass »es keinen Sozialismus ohne Populismus gibt und die höchsten Formen des Populismus nur sozialistisch sein können«.5 Untersuchungen zum Links- und Rechtspopulismus zeigen, dass es bestimmte kommunikative Mittel gibt, die typisch für eine populistische Kommunikation sind, u. a. eine schematische Aufteilung in ›wir‹ und ›die anderen‹, ›die da oben‹, Skandalisierung, inszenierter Tabubruch, Beschimpfung der Gegner. Laufen DIE LINKE. und auch andere Parteien Gefahr, beim Versuch einer populären Ansprache in jene Sprache des Populismus zu verfallen, die der gegenwärtigen Rechten nicht nur in Deutschland zum Erfolg verhilft?

Die Gefahr zu überziehen ist immer gegeben. Wer Mehrheiten für seine politischen Ziele gewinnen und begeistern will, wird aber mit einem aggressiven Populismus schnell an seine Grenzen stoßen, denn wer ausgrenzt, pöbelt, herabwürdigt, stößt die Menschen am Ende vor den Kopf, statt sie mitzunehmen. Ich denke, es wird auch in der Sprache bei den jeweiligen Mehrheiten sehr deutlich, dass es zwischen AfD und Linken keine Schnittmengen gibt.

Dem Programm Ihrer Partei ist das Gedicht Frage eines lesenden Arbeiters von Bertolt Brecht vorangestellt. Wenn Sie darüber befinden müssten, was unbedingt im Deutschunterricht gelesen werden muss, was wäre Ihre erste Literaturempfehlung und warum?

Brechts Kinderhymne. Sie ist schön geschrieben, logisch und überzeugend.


1 Das Interview wurde in der Zeitschrift Der Deutschunterricht, 3/2018 erstveröffentlicht.
2 »Wer denn sonst (wenn nicht eine linke Partei, P. S.) soll eigentlich wirklich versuchen, den Menschen zu erklären, wie ein internationaler Währungsfonds und eine Weltbank funktionieren, wie Politik gemacht wird und auf wessen Kosten. Die Vorgänge sind doch nicht ganz so einfach. Und der Bundestag ist doch ein Meister im Verschleiern der Probleme.« Aus: Gregor Gysi. Einspruch! Gespräche, Briefe, Reden. Hg. von Hanno Harnisch und Hannelore Heider. Berlin 1992, 145.
3 »Wer erst dann Regierungsverantwortung übernehmen will, bis die Bedingungen herrschen, die er vorgibt, der betreibt Politik für den Sankt Nimmerleinstag.» Aus: Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Berlin 2017, 438 f.
4 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1997 [Zitat: S. 133].
5 Ernesto Laclau: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus. Berlin 1981 [Zitat: S. 137].

Zur Person

Dr. Gregor Gysi (*16.1.1948 in Berlin) ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, dem er schon zwischen 1990 und 2002 angehört hatte. Von 2005 bis 2015 war er ebenda Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE. Mit dem Amtsantritt des dritten Kabinetts Merkel am 17. 12. 2013 wurde Gysi zusätzlich Oppositionsführer im Deutschen Bundestag. Im Dezember 2016 wählte die Europäische Linke Gysi auf einem Parteitag in Berlin zum Präsidenten. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann Gysi wie bei den vorhergehenden Wahlen sein Mandat als Direktkandidat im Bundestagswahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick.

Weitere Informationen auf www.linksfraktion.de

Zur Person

Prof. Dr. Peter Schlobinski ist Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache und Mitherausgeber von Der Deutschunterricht . Arbeitsschwerpunkte sind deutsche Grammatik und Gegenwartssprache, Soziolinguistik, Sprache und Neue Medien.

Weitere Informationen auf gfds.de