22. August 2023
Folge 21: Wortwitze, Missverständnisse und Sprachkompetenz: Die Vorzüge der Mehrdeutigkeit
Wer, würden Sie sagen, liebt im folgenden Satz wen?
Das Baby liebt die Mutter.
Ist das Baby oder ist die Mutter Subjekt des Satzes und liebt? Wer von beiden ist das Objekt und wird geliebt?[*] Die deutsche Sprache ist nicht immer eindeutig – viel häufiger ist sie vermutlich mehrdeutiger, als man denkt! In dieser Wortcast-Folge geht es nicht nur um uneindeutige Grammatik und wie wir diese verarbeiten, es geht vor allem auch um Wortwitze, die nur aufgehen, weil es Mehrfachbedeutungen in der Sprache gibt. Warum das so ist und was das mit einem Holzweg zu tun hat, das erzählt uns der Germanist Prof. Dr. Winfried Ulrich, der sich viel mit dem Thema Mehrdeutigkeit beschäftigt hat.
Zur Person
Prof. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Winfried Ulrich, geboren 1941 in Dramburg/Pommern, lehrte bis 2006 Germanistische Linguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Universität Kiel, vorher an den Pädagogischen Hochschulen Reutlingen und Kiel. Er war Gastprofessor an Universitäten in den USA, in Australien und Japan. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Semantik, Sprachwandel, Wortschatzarbeit und Sprachspiel.
Das Baby liebt die Mutter: Grammatikalischer Hintergrund der Mehrdeutigkeit
Von Subjekt, Objekt, Kasus und Deutung
In einem deutschen Aussagesatz, bestehend aus Subjekt, Verb (auch Prädikat genannt) und Objekt (S-V-O), steht das Subjekt stets im Nominativ (Frage: Wer?), das Objekt im Akkusativ (Frage: Wen?), Dativ (Frage: Wem?) oder, seltener, im Genitiv (Frage: Wessen?). Im Satz Das Baby liebt die Mutter haben sowohl das Baby als auch die Mutter in beiden Kasus den gleichen Artikel; Nominativ (wer?): das Baby, die Mutter, Akkusativ (wen?): das Baby, die Mutter. Bei einem solchen Zusammenfall der Formen spricht man von einem Synkretismus. Am Artikel lässt sich also nicht erkennen, welcher der Satzteile als Nominativ zu deuten und somit das Subjekt ist, welcher als Akkusativ zu lesen und somit das Objekt ist.
Nun ist die Standardabfolge der Satzteile in deutschen Aussagesätzen S-V-O – Subjekt, Verb, Objekt. Dies lässt darauf schließen, dass im Satz Das Baby liebt die Mutter das erste Satzglied das Subjekt ist, also das Baby. In der Tat ist diese Reihenfolge in ca. 90 % aller Hauptsätze anzutreffen: Der Vater isst das Brot. Das Kind plant einen Streich.
Die Satzteile sind jedoch verschiebbar, und so könnten letztere Sätze auch wie folgt lauten: Das Brot isst der Vater. Einen Streich plant das Kind. Die Bedeutung bleibt gleich, Subjekt und Objekt im Satz bleiben gleich, aber die Reihenfolge hat sich verändert, und zwar zu: O-V-S, Objekt, Verb, Subjekt. Diese Reihenfolge ist seltener und wird etwa benutzt, um Betonung auf das Objekt im Satz zu legen, aber sie ist im Deutschen grammatikalisch unproblematisch. Denn da Subjekt und Objekt im Deutschen unterschiedliche Kasus (also Subjekt = Nominativ vs. Objekt = Akkusativ/Dativ/Genitiv) aufweisen, werden die Rollen im Satz deutlich, egal ob in der Reihenfolge O-V-S oder S-V-O: Wer tut was (mit wem)?
Nimmt man nun an, dass nach der Standardreihenfolge S-V-O im eingangs erwähnten Satz das Baby Subjekt ist, die Mutter Objekt, so bleiben die Rollen auch bei Umstellung des Satzes in die Reihenfolge O-V-S dieselben:
(1) Die Mutter (O) liebt (V) das Baby (S);
auch dieser Satz sagt aus, dass das Baby liebt und die Mutter geliebt wird. Doch Achtung: Er ist zwar gleichlautend mit
(2) Die Mutter (S) liebt (V) das Baby (O),
doch in diesem Satz geht die Liebe von der Mutter aus, das Baby wird geliebt. In der gesprochenen Sprache würde man im Satz (1) Die Mutter wohl betonen, um diesen Bedeutungsunterschied deutlich zu machen (die Mutter liebt es, nicht den Vater). Im Schriftlichen bleibt der Satz mehrdeutig, da Nominativ und Akkusativ hier nicht auseinandergehalten werden können.
Zurück zu unserer Eingangsfrage: Die Bedeutung des Satzes Das Baby liebt die Mutter lässt sich folglich nicht auflösen; es besteht zwar nicht nur die größere Tendenz, das Baby in der Erststellung als Subjekt zu interpretieren, sondern auch die größere Wahrscheinlichkeit, dass dies tatsächlich die intendierte Bedeutung ist – dies kann jedoch ohne weiteres (Kontext-)Wissen keinesfalls als sicher angenommen werden.
Zu guter Letzt eine kleine Entwarnung: Derlei mehrdeutige Sätze entstehen nur, wenn Nominativ und Akkusativ in Femininum und/oder Neutrum aufeinandertreffen; hat mindestens einer der Satzteile maskulines Genus, so herrscht – zumindest im Singular! – Klarheit: Aus Das Baby liebt den Vater und Das Baby liebt der Vater geht eindeutig hervor, wer wen liebt. Im Plural allerdings sieht es wieder ganz anders aus …
Zum Weiterlesen
Auf unserer Website finden Sie bereits verschiedene Artikel, die das Thema Mehrdeutigkeit behandeln:
- Glosse: Subjekt – Prädikat – Objekt
- Glosse: Nach der Ampel links …
- Umschreibend umgeschrieben und umfahrend umgefahren. Homografe, Homofone und Homonyme
Prof. Dr. Winfried Ulrich hat verschiedene Beiträge in unseren Zeitschriften veröffentlicht; mit Mehrdeutigkeiten befassen sich etwa die folgenden:
- Der Sprachdienst 1-2/2022:
Winfried Ulrich: Warum hatte »Nathan der Weise« eigentlich keine Eltern? Ähnlichkeitseffekte, sprachliche Verwechslungen und deren Klärung im Deutschunterricht - Der Sprachdienst 4-5/2020:
Winfried Ulrich: »Nicht mit dem Kopf durch die Wand – mit Köpfchen!« Semantisches Biegen und Brechen sprachlicher Einheiten - Der Sprachdienst 1/2019:
Winfried Ulrich: Ambiguitätsverarbeitung beim Parsing. Zum Erkennen und Interpretieren struktureller Mehrdeutigkeit im Satz - Der Sprachdienst 5/2007
Winfried Ulrich: »Wie vermehren sich Mönche und Nonnen? – Durch Zellteilung.« Wie und mit welcher Absicht spielt man mit der Sprache?