Ausgabe: Der Sprachdienst 3–4/2011

Aussprache von Weg und weg

[F] Warum dehnt man eigentlich das e im Substantiv Weg, während man es im Adverb weg kurz ausspricht? Die Wörter haben doch im Grunde dieselbe Form.

[A] Dies ist eine interessante, wenngleich verzwickte Frage, denn die beiden Wörter haben nicht nur dieselbe Form, sieht man einmal von der Großschreibung des Substantivs ab, sondern auch dieselbe Wurzel. Sie gehen also auf das gleiche althochdeutsche Wort weg zurück, wenn auch zwischen ihrem erstmaligen Gebrauch in unterschiedlicher Bedeutung mehrere Jahrhunderte liegen.

Im Sinne von ›Geleise, Spur‹ war das althochdeutsche weg, später auch in der Form wec, bereits im 8. Jahrhundert gebräuchlich und geht auf dieselbe indogermanische Wurzel wie das Verb bewegen zurück. Doch erst im 12. Jahrhundert, also während der mittelhochdeutschen Sprachepoche, trat den Brüdern Grimm zufolge (Deutsches Wörterbuch, 13. Band, Leipzig 1922) das Adverb enwec als »abzweigung von dem vorhergehenden subst[antiv]« in Erscheinung, das im Althochdeutschen als Präpositionalgruppe in der Form in weg existiert hatte und die Bedeutung ›auf dem Weg, auf den Weg‹ trug. Hieraus ergibt sich die heutige Bedeutung ›(sich) entfernen‹ oder auch dessen Ergebnis. Obwohl enweg bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vorkam, hatte sich aufgrund lautlicher Vereinfachung seit dem 14. Jahrhundert parallel auch die einsilbige Form weg herausgebildet, die sich schließlich durchsetzte.

Doch wie nun hat sich die unterschiedliche Aussprache der beiden Wörter entwickelt, wenn hier die gleiche Wortwurzel zugrunde liegt? Waren sie in ihrem Ursprung noch verschieden (weg vs. in weg bzw. wec vs. enwec), so haben sich die Wörter im Zuge des Sprachwandels in ihrer Form einander angepasst, sind dabei jedoch bedeutungsdifferent geblieben. Es ist also anzunehmen, dass der Unterschied in der Bedeutung und der Wortart eine Rolle für die ungleiche lautliche Entwicklung von Weg und weg spielt. Um diese historisch nachvollziehen zu können, greifen die Brüder Grimm vielfach auf zeitgenössische Dichtung zurück und schließen anhand von Reimen (etwa weg Zweck, WegSteg etc.) auf die in der Sprachgeschichte jeweils gebräuchliche Aussprache von Substantiv und Adverb.

So war beim Substantiv Weg schon im 15. Jahrhundert ein Rückgang der Auslautverhärtung erkennbar, was sich auch in der Schrift niederschlug: Aus der Schreibung wec, wek oder weck entwickelte sich wegk, schließlich setzte sich überwiegend die Form Weg durch, was die Aussprache mit langem Vokal begünstigte. Obwohl das Substantiv vereinzelt auch mit einem kurzen Vokal vorkam (Reim: Weg – Zweck), war ein solcher weitaus häufiger beim Adverb weg. Besonders in süddeutschen Quellen (z. B. bei Grimmelshausen) wurde die Länge des Vokals oft und bis in die neuhochdeutsche Zeit durch ee angegeben; so findet sich das Substantiv in der Schreibung Weeg etwa in Schillers Die Räuber und in den Briefen und Tagebüchern Goethes.

Im Gegensatz zu dieser Entwicklung blieben beim Adverb weg die Kürze des Vokals und die Auslautverhärtung erhalten. Der kurze Vokal ist durch zahlreiche Reime zu belegen (vor allem aus dem 16. und 17. Jh.), in denen weg zumeist in der Schreibung weck, auch wegk, vorkommt: Speck, keck – hinweg, schleck – wegck, wegk – Dreck etc. (vgl. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm). In einem Gedicht von Brentano finden sich folgende Zeilen: »Französische Nägel sind weich wie a Dreck – Kaum trifft sie der Schlegel, so ist der Kopf wegk« (Tiroler Wetter und Barometter beim Aufstand gegen die Franzosen, 1813). Obgleich die Schreibungen weck und wegk deutlicher auf die sich durchsetzende Aussprache mit kurzem Vokal schließen lassen, wurde auch für das Adverb schließlich weg die gewöhnliche Form. Hierzu mag beigetragen haben, dass Luther in seiner Bibelübersetzung durchgehend diese Form wählte. Zwar kamen weck und wegk noch bis ins 17. Jahrhundert vor, verschwanden dann jedoch allmählich.

Die Aussprache von Weg mit langem Vokal und weg mit kurzem Vokal hat sich also bereits relativ früh entwickelt, und trotz einiger Umwege haben sie – plausibel oder nicht – schließlich auch im Schriftbild die gleiche Form erhalten. Diese lässt zwar auf ihren gemeinsamen Ursprung schließen, doch obwohl die Unterscheidung durch die Großschreibung des Substantivs und die Kleinschreibung des Adverbs erleichtert wird, können sich hier immer wieder Schwierigkeiten ergeben, etwa wenn Substantive mit dem Adverb weg zusammengesetzt sind: Weggang, Wegfall, Wegfahrsperre, Wegnahme, oder wenn Adjektive vom Substantiv Weg abzuleiten sind: weglos, wegkundig, wegsam, wegweisen. Derartige Stolpersteine und Verwirrungen fallen durch die verschiedene Aussprache von Substantiv und Adverb im lautlichen Bereich freilich »weg«.