8. Dezember 2023
GfdS wählt »Krisenmodus« zum Wort des Jahres 2023
Die Wörter des Jahres 2023
- Krisenmodus
- Antisemitismus
- leseunfähig
- KI-Boom
- Ampelzoff
- hybride Kriegsführung
- Migrationsbremse
- Milliardenloch
- Teilzeitgesellschaft
- Kussskandal
Im Fokus: Die Aktion »Wörter des Jahres«
Seit 1977 küren wir regelmäßig Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben.
Wir richten den Blick ausführlich auf die Aktion »Wörter des Jahres«, auf zahlreiche Fragen, die uns in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt werden, und schauen über den Tellerrand: Gibt es auch in anderen Ländern Wörter des Jahres, was hat das Unwort mit dem Wort des Jahres zu tun – und wie ist die ganze Aktion eigentlich entstanden?
Das Wort des Jahres 2023 ist Krisenmodus. Diese Entscheidung traf eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden. — Krisen gab es schon immer. Aber in diesem Jahr scheinen die Krisen und ihre Bewältigung zu kulminieren. Um einen Satz des Vizekanzlers zu modifizieren: Wir sind umzingelt von Krisen. Noch nicht bewältigte Krisen wie Klimawandel, der Russland-Ukraine-Krieg oder die Energiekrise werden von neuen Krisen eingeholt. Nahostkrieg, Inflation und Schuldenkrise kamen nun hinzu und auch die Bildungskrise spitzte sich zu. Der Ausnahmezustand ist längst zum Dauerzustand geworden. Gefühle wie Unsicherheit, Ängste, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht prägen den Alltag vieler Menschen. Zwischen Apathie und Alarmismus zu einem angemessenen Umgang mit den andauernden Ausnahmesituationen zu finden, fällt schwer. Linguistisch zu beobachten ist dies an einer zunehmenden sprachlichen Radikalisierung im öffentlichen Raum.
Antisemitismus (Platz 2) ist hierzulande durchaus kein neues Phänomen; er existierte lange vor dem Nationalsozialismus und ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie ausgestorben. Spätestens der Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 offenbarte aber, dass es in Deutschland nicht nur rechts-, sondern auch linksradikalen Antisemitismus gibt. Ebenso trat eine islamistisch geprägte und in Teilen der muslimischen Bevölkerung wahrnehmbare Judenfeindlichkeit deutlich zutage. Mit dem Slogan »Nie wieder ist jetzt!« zeigen dagegen viele Menschen Flagge gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Antisemitismus – eine Begriffsklärung
Antisemitismus ist bekannt als auf negativen Stereotypen gründende Abneigung, als Feindschaft, gar Hass gegenüber Juden und dem Judentum. Doch weshalb spricht man von Antisemitismus, warum nicht konkret von Antijudaimus? Was steckt hinter dem Semitentum und wie hat sich das Wort Antisemitismus zu einem politischen Schlagwort, zu einer ganzen Ideologie entwickelt? Das geben wir hier in aller Kürze wider.
Um die Lesefähigkeit der Bevölkerung ist es nicht gut bestellt – die Schulschließungen während der Pandemie und die Deutschkenntnisse von Migrantinnen und Migranten dürften die Situation noch verschlimmert haben. In jüngsten Studien erfüllen bis zu 31 Prozent der Viertklässler nicht die Mindeststandards beim Lesen. Das Adjektiv leseunfähig (Platz 3) bezieht sich jedoch darüber hinaus auch auf das Verstehen komplexerer Texte, das offenbar immer mehr Menschen Schwierigkeiten bereitet, und ist ein Verweis auf eine grundlegende Bildungsmisere in Deutschland.
Die rasanten Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz (KI) bergen Chancen und Risiken. Der KI-Boom (Platz 4) leitet eine Umwälzung in allen Bereichen ein: in der Forschung und im Gesundheitswesen (z. B. Krebsforschung), in der Fertigungs- und Materialtechnologie, in der Verkehrssicherheit und -planung u. a. Auf der anderen Seite werden auch Gefahren erkennbar, etwa für Arbeitsplätze und auch für das Klima. So könnte in naher Zukunft, Berechnungen zufolge, der Energieverbrauch der weltweiten KI-Systeme auf mehr als 80 Terawattstunden pro Jahr ansteigen – was dem Strombedarf von Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder Argentinien entspricht.
Die Regierungskoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, nach den drei Parteienfarben gemeinhin als Ampelkoalition bezeichnet, trug 2023 ihre Kontroversen um politische Positionen immer wieder öffentlich aus. Der Ampelzoff (Platz 5) drehte sich um Fragen der Wirtschafts-, Klimaschutz-, Sozial- und Migrationspolitik und führte bei Opposition und Medien wiederholt zu der Frage nach der Regierungsfähigkeit der Koalition.
Die Substantivgruppe hybride Kriegsführung (Platz 6), ursprünglich ein militärtheoretischer Fachterminus, bezeichnet Mischungen von offenen und verdeckten, regulären und irregulären Strategien, beispielsweise in Partisanen- und Guerillakriegen. Im Bewusstsein der deutschen Sprachöffentlichkeit ist der Ausdruck insbesondere mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verbunden. Die Auswirkungen dieser Art verschleiernder Kriegsführung sind in Form von Hackerangriffen und Propagandakämpfen um die öffentliche Meinung auch hierzulande zu spüren.
Eine Migrationsbremse (Platz 7) forderte angesichts der weiter ansteigenden Asylbewerberzahlen der brandenburgische Innenminister. Die Wortbildung, die sich in eine Reihe mit weiteren -bremse-Komposita wie Schuldenbremse, Kostenbremse oder Miet-/Strom-/Gaspreisbremse stellt, steht für die 2023 intensiver gewordene Debatte um den politischen Umgang mit Migration und ihren Folgen für die Gesellschaft. Auch der Bundeskanzler schwenkte ein: »Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.«
Ein Milliardenloch (Platz 8) riss Mitte November das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in die Finanzplanung der Ampelkoalition. 2021 hatte die Bundesregierung zur Bewältigung der Corona-Krise zusätzliche Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro aufgenommen. Wie sich herausstellte, wurden diese nicht gebraucht, und so wollte man in künftigen Jahren darüber verfügen können. Das höchste deutsche Gericht entschied jedoch, dass sich die Feststellung einer Notlage auf ein konkretes Haushaltsjahr beziehen muss und deshalb für jedes Haushaltsjahr gesondert zu treffen ist. Die Regierung steht damit vor der schwierigen Aufgabe, die Milliarden einzusparen oder anderweitig zu beschaffen.
Das Substantiv Teilzeitgesellschaft (Platz 9) kennzeichnet die immer stärker werdende Tendenz, den Anteil reduzieren zu wollen, den die Erwerbstätigkeit an der eigenen Lebenszeit einnimmt. Die Diskussion um die Vier-Tage-Woche (bei vollem Lohnausgleich) und auch Wortbildungen wie Qualitätszeit (= Freizeit) oder Work-Life-Balance gehören heute zum Alltag. In vielen Berufsfeldern werden künftig wohl neue Modelle erforderlich sein, um genügend qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber anzusprechen.
Der Kussskandal (Platz 10) bezieht sich auf den Eklat, den Spaniens Fußballverbandspräsident Luis Rubiales auslöste, indem er Jennifer Hermoso, Kapitänin des spanischen Fußballnationalteams, bei der Weltmeisterschafts-Siegerehrung in Sydney ungefragt öffentlich auf den Mund küsste. Der Vorfall löste in Spanien und vielen anderen Ländern, auch in Deutschland, eine Sexismus-Debatte aus; Rubiales musste zurücktreten. Orthographisch fällt das Substantivkompositum Kussskandal durch den dreimal unmittelbar aufeinanderfolgenden Buchstaben s auf – eine Konstellation, die auch nach der Rechtschreibreform von 1998 im Deutschen selten geblieben ist.
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Die Wörter des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache werden 2023 zum 47. Mal in Folge bekannt gegeben. Die Aktion, die mittlerweile weltweit Nachahmung findet, ist die älteste ihrer Art. Traditionell suchen die Mitglieder des Hauptvorstandes und die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GfdS nicht nach den am häufigsten verwendeten Ausdrücken, sondern wählen solche, die das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise charakterisieren.
Krisenmodus
Krisen gab es schon immer: die Öl-/Energiekrise, die Wirtschafts- und die Finanzkrise, die Klima-, die Flüchtlings- und die Coronakrise. Hundert Jahre nach dem historischen Krisenjahr 1923 ist aber gefühlt so viel Krise, dass es der neue Normalzustand zu werden scheint. Russland-Ukraine-Krise, neue Nahostkrise, Krisen auf dem Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen, noch nicht bewältigte Inflation … zwischen Apathie und Alarmismus zu einem angemessenen Umgang mit den andauernden Ausnahmesituationen zu finden, fällt vielen Menschen schwer. Linguistisch zu beobachten ist dies an einer zunehmenden sprachlichen Radikalisierung im öffentlichen Raum, an Hatespeech in den sozialen Medien und an Verschwörungserzählungen.
Krisenmodus ist kein Wort, das erst 2023 geprägt worden wäre. Der früheste Beleg, der sich im Deutschen Referenzkorpus, der weltweit größten digitalen Textsammlung zur deutschen Sprache nach 1945 findet, stammt aus dem Jahr 2001. Der erste Bestandteil des Kompositums geht zurück auf das griechische krísis, das mit kritisch verwandt ist und daher so viel bedeutet wie ›kritischer Punkt, entscheidender Punkt, Höhepunkt oder Tiefpunkt einer gefahrvollen Entwicklung‹. In der älteren Medizin war die Krise der Wendepunkt einer Krankheit; im Griechischen konnte das Wort auch für ›Urteil, gerichtliche Entscheidung‹ stehen. Die Entlehnung in die deutsche Sprache erfolgt im 18. Jahrhundert über das Französische; in der Bedeutung ›Entscheidungspunkt, schwierige Lage‹ wird Krise bereits in dieser Zeit auf wirtschaftliche und politische Zusammenhänge übertragen.
Der zweite Wortbestandteil kommt im 17. Jahrhundert aus dem Lateinischen ins Deutsche. Modus bedeutet ursprünglich ›Maß, Ziel, Vorschrift, Art und Weise‹, im Deutschen dann auch ›Verfahrensweise‹. Krisenmodus wäre also zu übersetzen mit ›regelgeleitete, planmäßige Verfahrens- oder Verhaltensweise in einer schwierigen Lage‹. Das bedeutet sinngemäß, dass man alles tut, um die Wende herbeizuführen und aus der problematischen Situation wieder herauszukommen. Wenn es sich um eine Dauerkrise handelt, erhält freilich das Wort eine neue, der ursprünglichen widersprechende Bedeutung: Der Krisenmodus tendiert dann zur Akzeptanz, zum Sicheinrichten in der Krise.
Von »psychischen Belastungen durch Krieg, Corona, Klima« sprach Focus online (24.10.2023) und fokussierte: »Wir befinden uns seit Monaten im Dauerkrisenmodus, jetzt kommt auch noch die so genannte dunkle Jahreszeit dazu.« Deutschland im Krisenmodus, Welt im Krisenmodus, oder Leben im Krisenmodus lauteten andere Titel und Schlagzeilen. »Es ist Zeit, dass Deutschland den Krisenmodus abschüttelt«, erklärte Christian Böllhoff im Handelsblatt (5.2.2023). »Wir beenden nun den Krisenmodus expansiver Staatsfinanzen«, so Bundesfinanzminister Christian Lindner in der Zeit (5.7.2023) – allerdings bevor das Bundesverfassungsgericht seinen Haushaltsentwurf für rechtswidrig befand und ihm damit ein Milliardenloch (WdJ 2023: Platz 8) bescherte, zu dessen Deckung neue Schulden in Aussicht genommen werden mussten. Ob angesichts der Weltlage ebenso wie der Situation im Inland aus dem Krisenmodus bald herauszukommen ist, darf bezweifelt werden. Umso wichtiger scheint es zu sein, den eigenen moralischen Kompass nicht zu verlieren. Man muss gar nicht unbedingt die Welt retten; es könnte genügen, unaufgeregt das zu tun, worin nach dem Urteil (krísis) des griechischen Philosophen Platon das Gute besteht: alle Menschen jeweils das, wozu sie im Stande sind.
Jochen A. Bär