Bedeutung von Blumine
[F] Wie ist das Wort Blumine zu erklären, das vor allem durch Gustav Mahlers so benannten sinfonischen Satz bekannt ist? Ich bin Musikredakteur und kenne die Mahler-Literatur gut, doch dieses Wort gibt mir seit Jahren Rätsel auf.
[A] Das Wort Blumine ist allerdings ganz selten, doch man findet es in älteren Verdeutschungslexika und Fremdwörterbüchern. So wird es von Daniel Sanders (Fremdwörterbuch, 1871) mit der Erklärung ›Blumensammlung‹ angeführt, und man könnte auf die Verdeutschung von Anthologie, gewöhnlich als ›Blütenlese‹ verstanden, schließen. Gleich dahinter zitiert Sanders den Titel Herbst-Blumine oder gesammelte Werkchen von Jean Paul. In verwandtem Sinne wird in Meyers Enzyklopädischem Lexikon, 4. Aufl., 1885 bis 1892, Blumine als ›Blumensammlung‹ verstanden.
Tatsächlich gibt es von Jean Paul eine Veröffentlichung unter diesem Namen, genauer: Herbst-Blumine, oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften, drei Bände, erschienen in Tübingen 1810, 1815, 1820. Franz Muncker charakterisierte sie in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Band 28, 1889: »Eine Reihe anderer kleinere Aufsätze aus Zeitschriften sammelte J. P. 1810 zum ersten Bande der ›Herbst-Blumine‹, dem sich noch zwei Bände 1815 und 1820 sowie 1814 unter dem Titel ›Museum‹ die im ›Frankfurter Museum‹ veröffentlichten Aufsätze und 1825 die zwei Bände der ›Kleinen Bücherschau‹ anschlossen. Phantasie und Humor, Empfindsamkeit und Satire waren auch die Wesenseigenschaften dieser kleinen Abhandlungen oder Erzählungen, deren Stoffe alle erdenklichen Personen und Verhältnisse des wirklichen oder eines erträumten Lebens bildeten. […]«
In der Vorrede des ersten Bändchens, unterschrieben am 8. August 1810, sagt Jean Paul programmatisch und im Hinblick auf eine Sprachneuerung: »Der ehrwürdige tiefe Sprachforscher Wolke hat im allgemeinen deutschen Anzeiger (Nr. 70 und Nr. 191 dieses Jahres) außer vielen Vorschlägen für deutsche Sprach-Reinigung […] auch den trefflichen gegeben, daß wir in die deutsche Endigung ette und ine die griechischen und lateinischen Göttinnn übersetzen möchten, also Pomona in Obstine, Venus in Huldine, Dryade in Bergette, Flora in Blumine […].« (Vgl. Günter de Bruyns Monographie Das Leben des J. P. F. Richter; Frankfurt a. M. 1976, zuerst Halle 1975.) Er verweist darauf, dass man ja Name, nicht mehr Namo, Wille und Himmel, nicht mehr Willo und gotisch Himina sage, und verteidigt gegen die »Hrn. Rezensenten« den Titel Herbst-Blumine. Obwohl Almanache und Taschenbücher gewöhnlich im Herbst herauskämen, erschiene ihm die Version Herbstblumen »nur mäßig«. Es geht Jean Paul also um Flora, die römische Göttin der Blumen und alles Blühenden, zu deren Ehren im April Feste begangen wurde. So kommt es hier nun zur Herbst-Flora, verdeutscht zur Herbst-Blumine!
Wolke (1741–1825), Sprachforscher und Pädagoge, führendes Mitglied des Philanthropin in Dessau, wo er u. a. mit Campe in Berührung kam, wollte »die Vernunft zum Regulativ für den Sprachgebrauch« machen und ein »musterhaftes Hochdeutsch entwickeln«, das ohne Fremdwörter auskomme; so wollte Wolke auch Vulkan zu Feueran, Zeus zu Donneran und Faun zu Waldaun machen sowie die grammatischen Termini verdeutschen, z. B. Nunzeit, Vorbeinunzeit oder Fortzeit einführen, was ihm heftigen Widerstand eintrug (vgl. Erich Straßner, Deutsche Sprachkultur. Von der Barbarensprache zur Weltsprache, Tübingen 1995).
Blumin als Ausdruck für »Flora, die Blumengöttinn« wird auch von Joachim Heinrich Campe in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (1801) genannt, hier als Bluminn, und zwar in Verbindung mit dem Wortgebrauch der Fruchtbringenden Gesellschaft. Ein gleichlautender Eintrag findet sich im Wörterbuch zur Beförderung der teutschen Sprachreinigung, das 1812 in Königsberg »zunächst zum Beitrag für die Luisenstiftung« erschien.
Jetzt endlich zu Gustav Mahler und seiner Blumine. Er hatte Jean Paul intensiv gelesen und verehrt, hatte 1883 z. B. auch dessen Grab in Bayreuth besucht und war in Jean Pauls Geburtsort Wunsiedel gereist. Seine 1888 beendete Erste Symphonie, 1889 in Budapest uraufgeführt, bestand damals noch aus fünf Sätzen, später wurde das lyrische Andante, zwischen dem jetzigen I. und II. Satz überschrieben, ausgeschieden. Anfangs hieß jener Sinfoniesatz Blumine, dann Bluminen-Kapitel oder Blumenstück. Bei der Uraufführung firmierte das Werk als Symphonische Dichtung in zwei Teilen mit dem später zurückgezogenen Blumine-Satz. Bei den folgenden Aufführungen erhielt die Sinfonie nach dem gleichnamigen Roman von Jean Paul den Titel Titan. (Siehe Alphons Silbermann, Lübbes Mahler Lexikon, 1986, und Wulf Konold, Lexikon Orchestermusik Romantik. Schott’s Führer durch die Musikwelt, 1989.)
Allem Anschein nach hat Mahler also den Ausdruck Blumine von Jean Paul übernommen. Um Blumen bzw. Flora geht es übrigens auch in Mahlers Dritter Symphonie; ursprünglich hatte er den Sätzen programmatische Überschriften gegeben, darunter für den II. Satz: »Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.«