Herkunft von stiften gehen

[F] Bei einem »Stiftermahl« für eine gemeinnützige Einrichtung kam die Frage auf, wie die Wendung stiften gehen im Sinne von ›abhauen, sich verdrücken‹ entstanden sein mag. In den Lexika, die mir vorliegen, auch bei Lutz Röhrich, findet sich der Ausdruck wohl erwähnt, aber ohne Erklärung. Könnte nicht das Wort Stift in der Bedeutung ›etwas Geringes, Kleinigkeit‹ – man vergleiche Stift als ›Lehrling‹ – der Ausgangspunkt sein? Wer sich schnell aus dem Staub macht, »sich dünne macht«, wirkt nur noch wie ein Strich in der Landschaft?

[A] Der Ausdruck stiften gehen, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts geläufig ist und in vielen Wörterbü­chern, auch Dialektwörterbüchern, ver­zeich­net wird, ist trotz verschiedener Deu­tungsversuche noch nicht plausibel und sicher erklärt.

In der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs ist der Ausdruck stiften ge­hen reichlich belegt. Gustav Hochstet­ter ­(Der feldgraue Büchmann. Geflügelte Kraftworte aus der Soldatensprache, 1916) und Otto Maußer (Deutsche Solda­tensprache, 1917) haben stiften und stiften gehen im Sinne von ›weggehen, sich entfernen, bei Gefecht sich wegmachen‹ bzw. (in der Fliegersprache) ›schnell verschwin­den, Deckung suchen‹ doku­mentiert. Dies wird wiedergegeben im Deut­schen Wörterbuch der Brüder Grimm, Bd. 10.II.II (1942, Sp. 2890), wo auch vermerkt wird, dass stiften gehen in die Umgangssprache über­nommen wurde. Die Wendung hat sich ja gehalten, und in der späteren Soldatensprache, auch der in der DDR war stiften gehen zu beobachten.

Entstanden ist der Ausdruck ver­mutlich schon zuvor. Heinz Küpper gibt in seinem Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Bd. 7, 1984) bei stiftengehen ›sich heimlich entfernen‹ an: »1900 ff.«, und er verweist nicht nur auf die Soldatensprache, sondern auch auf die Verbrecher- und die Polizeisprache. Zur Deutung schreibt er: »Gehört zu mhd ›stieben = Staub aufwirbeln; schnell laufen‹.« Anscheinend unter Bezug auf Küpper erwägt dies auch das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von F. Kluge/E. Seebold (zuletzt 2002). Doch bleibt dies spekulativ. Auch Johann Knoblochs Hypothese, hier liege eine Wendung aus der Imkersprache vor – siehe das Stiften der Bienen –, ist unbewiesen. Knobloch weist darauf hin, dass die Königin nach dem Bestiften des Eis (die Bieneneier werden also als Stifte angesehen) ihre besondere Zelle verlässt und wegfliegt; ein Einfluss der Imkerfachsprache auf die Umgangssprache sei denkbar (siehe Muttersprache, 1978, S. 261 f.). Zustimmend aufgegriffen wurde diese Erklärung unseres Wissens nicht.

Für Ihren Deutungsversuch spricht zunächst, dass in der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs, für die stiften gehen ja reichlich belegt ist, seinerzeit auch Stift in der Bedeutung ›Rekrut‹ geläufig war; dies übrigens schon früher, wie bei Paul Horn belegt (Die deutsche Soldatensprache, 1905). Doch eine rechte Sinnbeziehung will sich für mich nicht herstellen, da der Gang der Erklärung sehr verwickelt und der Ausdruck offenbar älter ist sowie auf andere Weise zu erklären sein müsste. Einige Dialektwörterbücher haben schon diese Beziehung zu Stift formal hergestellt, doch auch kein nachvollziehbares Motiv benannt.
Schon die Autoren jenes Bandes des Deutschen Wörterbuchs vermuten, die Wurzel liege in der Gaunersprache. In anderer Weise wird auf dieses Idiom Bezug genommen in Trübners Deutschem Wörterbuch, Band 6, 1955. Hier wird stiften gehen im Sinne von ›weglaufen‹ erklärt unter Hinweis auf das hebräische Wort schataf mit der Bedeutung ›überströmen‹; der Ausdruck sei »durch Gaunerkreise vor allem der Soldatensprache vermittelt worden«. Eine Bestätigung allerdings war nicht zu ermitteln.

Einen weiteren Hinweis mit Blick auf die Gaunersprache bietet Sigmund A. Wolfs Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache (1956): Stift ist mehrfach belegt, für ›Knabe‹ und Lehrling, Kellnerlehrling‹ (Stiftche meint ›Knäbchen‹, Stiftbohrer ›Päderast‹). Stift heißt weiterhin aber auch ›Kautabak‹ und stiften ›Tabak kauen‹ (dies wird übrigens von den Dialektwörterbü­chern zum Berlinischen und zum Preußischen unterstützt). So wäre eine weitere Spe­kulation möglich: Könnte die frag­liche Wendung nicht mit Blick auf denjenigen entstanden sein, der sich aus dem Staube macht und Deckung sucht, weil er sich aus dem Gefecht zurückziehen und in Ruhe priemen will?

Eine schlüssige Erklärung für stiften gehen steht wohl noch aus, aber mir scheint, die Herleitung aus stieben hat viel für sich. Im Mittelhochdeutschen meinte stieben nicht nur ›wie Staub umherfliegen‹ und ›Staub von sich geben, stäuben‹, sondern auch ›schnell laufen, rennen, fliegen‹. Auch das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Bd. 11, 2006) belegt stieben, übertragen und auf den Menschen bezogen, im Sinne von ›sich schnell entfernen, entfliegen‹.