Ausgabe: Der Sprachdienst 3–4/2009

Die kontroverse Bezeichnung Stundenkilometer

CC-Lizenz

[F] Im Zusammenhang mit den Sturmwarnungen benutzten wir das Wort Stundenkilometer. Daraufhin schickte uns ein Hörer einen kritischen Brief, in dem er daran erinnerte, dass ihm in seiner Ausbildung als Kfz-Mechaniker »eingetrichtert« worden sei, es heiße »Kilometer pro Stunde«. Seien Sie uns bitte bei der Aufklärung dieses sprachlichen Problems behilflich: Ist es korrekt und erlaubt, den Ausdruck Stundenkilometer zu benutzen, oder nicht?

[A] Tatsächlich wurden schon viele Diskussionen um dieses Wort geführt. Der fachlich geprägte Ausdruck Kilometer pro Stunde/Kilometer je Stunde ist sicherlich korrekt, physikalisch exakt und im fachlichen Kontext auch zu bevorzugen – so heißt es etwa in der Brockhaus-Enzyklopädie (2006, Band 26), Stundenkilometer sei eine »unkorrekte Bez[eichnung] für die Geschwindigkeitseinheit Kilometer je Stunde«. Das entsprechende physikalische Zeichen ist km/h, womit das besondere Verhältnis angegeben wird, das mit Kilometer je Stunde (pro Stunde) seine exakte Entsprechung findet. Der Schrägstrich bei km/h zeigt dieses Verhältnis förmlich an, anders etwa als bei Kilowattstunde (Elektrotechnik, Arbeit und Wärmemenge), Zeichen kWh bzw. kW · h, oder der früher üblichen Bezeichnung Kilopondmeter (Energie und Drehmoment), Zeichen kpm bzw. kp · m.

Doch trotzdem hört und sieht man in der Allgemein- bzw. Standardsprache oft die sprachliche Abwandlung Stundenkilometer statt Kilometer pro Stunde. Bei Stundenkilometer handelt es sich um ein Kompositum, also um ein zusammengesetztes Wort. Komposita zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass ihre Bestandteile im Zusammenspiel unterschiedliche Bedeutungen und Bezüge bezeichnen können, was die Beispiele Schweineschnitzel, Jägerschnitzel und Seniorenschnitzel verdeutlichen. Im ersten Fall handelt es sich um die Art des Fleischs (vom Schwein), im zweiten Fall wird die Zubereitung des Gerichts (mit einer würzigen Soße und Pilzen) deutlich und im dritten Fall ist der Konsument des Schnitzels (Senioren) bezeichnet.

Die Wortbildungslehren weisen oft darauf hin; so schreibt z. B. Ludwig Eichinger in Deutsche Wortbildung. Eine Einführung (2000, S. 181): »Bei der substantivischen Komposition ist eine Vielzahl von Relationen zwischen den Bestandteilen erkennbar.« In der grammatischen Fachliteratur sind Dutzende von Typen registriert worden. Die aktuelle Duden-Grammatik (7. Aufl. 2005, § 1095) sagt allgemein zur Frage des Verhältnisses der beiden Wortbestandteile bei zweigliedrigen Komposita: »Das Zweitglied wird durch das Erstglied nach verschiedenen Gesichtspunkten in seinem Bedeutungsumfang eingeschränkt. Art und Vielfalt [!] dieser Einschränkung hängen bei usuellen Komposita ganz wesentlich von der lebenspraktischen [!] Bedeutung des vom Zweitglied bezeichneten Gegenstandes ab. So wird ein zentrales Wort des Grundwortschatzes wie Stadt durch Komposition besonders differenziert, modifiziert […].« Verwiesen wird anschließend auf diese sechs Muster: a) nach der Größe: Groß-, Klein-, Millionenstadt; b) nach der Lage: Grenz-, Küsten-, Mittelmeerstadt, c) nach konstitutiven Bestandteilen: Film-, Industrie-, Messestadt, d) nach der politischen Stellung: Bezirks-, Haupt-, Kreisstadt, e) mit Bezug auf bedeutende Persönlichkeiten: Goethe-, Luther-, Mozartstadt, f) mit Bezug auf die Bedeutung für den Einzelnen: Geburts-, Heimatstadt. Doch damit nicht genug; fügen wir noch diese Kompositionsfälle hinzu (vermutlich finden sich weitere):

Geisterstadt (bildhafter Vergleich – hier wäre doch wohl auch das Beispiel Weltstadt einzureihen, das die Duden-Grammatik unter a) subsumiert hat), Domstadt (Variante für Köln), Gartenstadt (bestimmtes Merkmal, Stadtteil mit viel Grün), Zeltstadt (keine Stadt im eigentlichen Sinn), Partner-, Schlafstadt (nach bestimmten Eigenschaften; diese Beispiele könnten womöglich c) angegliedert werden).

Die entsprechende Passage aus Band 9 des Großen Dudens, Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (2007, S. 857) sei auszugsweise zitiert: »Stundengeschwindigkeit, Stundenkilometer: Gegenüber beiden Komposita ist häufig der Vorbehalt geäußert worden, dass sie unsinnige und unlogische Bildungen seien. Die Sprache ist aber nicht immer ›logisch‹ in einem bestimmten, von irgendjemandem geforderten Sinn. Als Verständigungsmittel ist sie allem Prägnanten, Treffenden und Knappen gegenüber geöffnet. Daher spielt auch die Sprachökonomie eine große Rolle in der Syntax und in der Wortbildung. In einem Kompositum kann durchaus eine ähnliche Bedeutung stecken wie in einem ganzen Satz oder einer längeren syntaktischen Konstruktion. Deshalb ist es ein Irrtum, zu glauben, dass Komposita alle auf die gleiche Weise gebildet seien oder dass sie alle auf genau eine Weise auflösbar sein müssten (vgl. Gottesliebe, Bücherstütze, Türschloss, Bilderrahmen, Kartoffelsuppe, Fußboden, Berlin-Krise, Wintergarten, Sekundenschnelle, Meterpreis, Ladenpreis […]). Auch Stundengeschwindigkeit und Stundenkilometer können nicht einfach in Geschwindigkeit einer Stunde und Kilometer einer Stunde aufgelöst werden. Ihre tatsächliche Bedeutung bleibt davon aber unberührt. Stundengeschwindigkeit bedeutet ›Durchschnittsgeschwindigkeit in einer Stunde‹, Stundenkilometer bedeutet ›Anzahl der Kilometer, die in einer Stunde bei gleich bleibender Geschwindigkeit zurückgelegt werden können‹ […].«

Hiermit wird die vorliegende sprachliche Problematik u. E. richtig dargestellt. Es ist also durchaus erlaubt, die Zusammensetzung Stundenkilometer zu wählen, trotzdem sollte man sich der fachlich korrekten Begrifflichkeit bewusst sein. In der Öffentlichkeit und in den Medien nimmt man oft den Begriff Stundenkilometer wahr, und aufgrund seiner hohen Frequenz wurde er in den Duden (2013) aufgenommen, allerdings als umgangssprachlich eingestuft. Es ist eine Tatsache, dass sich Sprache in einem stetigen Wandel befindet, und so ist es in den meisten Fällen nur möglich, den Sprachwandel zu registrieren, nicht aber, ihn zu kontrollieren oder zu unterbinden. Was heute als Fehler angesehen wird, kann morgen schon umgangssprachlich, übermorgen standardsprachlich akzeptabel sein. Das kann natürlich kritisch gesehen werden, doch wie die Gesellschaft muss sich auch die Sprache weiterentwickeln. Was sich dabei durchsetzt, was angenommen wird und was abgelehnt wird, entscheidet allein die Sprachgemeinschaft, indem sie Konstruktionen verwendet und verbreitet oder dies eben unterlässt.

Ergänzend schließlich noch ein Blick auf andere Zusammensetzungen mit Kilometer-; ganz unterschiedliche Beziehungsverhältnisse sind zu erkennen, ohne dass im Sprachalltag Verständnishürden aufträten (Erläuterungen z. T. nach der Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Auflage, und dem Großen Wörterbuch der deutschen Sprache, 1999): Stromkilometer (nach der Lage), Quadrat- und Kubikkilometer (km² und km³, geometrische Größen), Leerkilometer (von einem Fahrzeug ohne Nutzlast zurückgelegt) bzw. Flugkilometer (von einem Flugzeug zurückgelegte, in km [Kilometer] gemessene Strecke), Tonnenkilometer (Produkt aus beförderter Last und Weg, Zeichen tkm), Personenkilometer (im Verkehrswesen die im Personenverkehr beförderten Personen und die von ihnen zurückgelegten Entfernungen, Zeichen pkm), Wagenkilometer (je Wagen zurückgelegter Weg in Kilometern bei der Eisenbahn), dazu Achskilometer (Produkt aus der Zahl der Achsen und der zurückgelegten Kilometer).

Somit kann Stundenkilometer durchaus (im umgangssprachlichen Kontext) verwendet werden, standardsprachlich korrekt und gebräuchlich ist allerdings nur Kilometer pro Stunde.