Herkunft und Bedeutung von urzen, orzen
[F] Bei uns in der Nähe von Koblenz gibt es ein Mundartwort, das nicht zu deuten ist: urze, orze im Sinne von ›Essensreste hinterlassen‹. Welche Wurzel hat dieser Ausdruck? Bekannt ist er immerhin im rheinischen, aber wohl auch moselfränkischen und vielleicht auch hessisch-pfälzischen Gebiet.
[A] Gern gehen wir auf Ihre interessante Anfrage zu urzen/orzen ein, zumal wir dieses Wort bisher gar nicht gehört hatten.
Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet neben dem Verb uraßen bzw. uräßen das Substantiv Uraß als ›verschmähte Überbleibsel von Speise und Futter‹, merkt aber an, dass es sich hierbei um ein Mundartwort handelt, das hauptsächlich außerhalb der Schriftsprache und in verschiedenen Varianten auftritt. So wird »bei stärkster betonung des präfixes die zweite silbe völlig entwertet und schwindet«, sodass auf diese Weise die Formen urz, uirz, urze, orz entstanden sind (Deutsches Wörterbuch, begründet von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 11.III, 1936, Sp. 2371 f.).
In den deutschen Dialekten sind denn auch entsprechende Wortformen in vielfältigen Variationen bekannt. Im Rheinischen bezeichnet Uressen allgemein Reststücke, besonders in Bezug auf Speisen, ebenso wird Urze bzw. Urzel für einen derartigen Überrest gebraucht (Rheinisches Wörterbuch, Bd. 9, 1964–1971, S. 75 ff.). Das Hessen-Nassauische kennt die Form Uräßel für ›Speiseüberreste‹, uräßen als Verb in der Bedeutung ›Speisereste hinterlassen‹ sowie das Adjektiv uräß = ›überdrüssig‹, wobei dies besonders auf Speise und Trank bezogen ist (Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch, Bd. 5, 1975, Sp. 268 f.). Schon Joseph Kehrein verzeichnete in seinem Werk Volkssprache und Wörterbuch von Nassau (1891) Urze, Orze als ›Überbleibsel von Speisen bei Menschen und Vieh‹, urzen als ›das Bessere auslesen, das Schlechtere liegen lassen‹, bezogen auf das Fressen der Tiere.
Etwas entfalteter ist der Wortgebrauch im südhessischen Raum, wo Uräß im Sinne von ›Überdruss, Widerwille, Abscheu, Ekel‹ vorkommt sowie als Personenbezeichnung im übertragenen Sinne: Ein Uräß ist ein ›unangenehmer, unleidlicher, böser Mensch‹. Das Substantiv Uräße bzw. Uräßen wird erklärt mit ›Überreste, Überbleibsel des Essens‹, auch ›Futterüberreste‹. Das Verb uräßen wird mit der Bedeutung ›des Essens, einer Speise überdrüssig, übersättigt sein‹ sowie ›einer Person überdrüssig, müde sein‹ aufgeführt. »Er machd Oräßel [= Uräßel]« heißt ›er isst seinen Teller nicht leer‹. Weiterhin ist das Adjektiv uräßig belegt: ›einer Speise überdrüssig, übersättigt‹. (So das Südhessische Wörterbuch, Lieferung 21, 2002.)
Diese Wortgruppe ist aber auch in anderen Regionen verbreitet, und wir gehen hier noch auf zwei ein. So gibt es auch im sächsischen Sprachgebiet Uräß und uräßen, daneben Ursch und urscheln und urschen, mit jeweils etwas veränderter Bedeutung, doch im Kern wird auf Essen, Essensreste und verschwenderisches Umgehen mit dem Essen verwiesen (Wörterbuch der obersächsischen Mundarten, Bd. 4, 1996). Das Schwäbische Wörterbuch schließlich vermerkt Urase als ›Überreste, insbesondere beim Essen‹ und uräss als ›wer an etwas Ekel, Überdruss hat‹ (von einer Speise, aber auch von Menschen); »sich uräss essen« meint ›bis zum Überdruss essen‹ (Bd. 6.1, 1924). Vielleicht gibt es Wörter aus dieser Gruppe auch noch anderswo.
Wie sind diese Ausdrücke sprachgeschichtlich zu erklären? Zugrunde liegt offenbar ein früher vorhandenes Verb, althochdeutsch urezzan, mittelhochdeutsch urezzen mit der Bedeutung ›herausessen, vollständig zu Ende essen, ausessen, zu essen aufhören aus Überdruss daran, Essbares wählerisch übriglassen‹ (so nach dem Deutschen Wörterbuch).
Das Verb essen, verbunden mit einer Vorsilbe, die in vergangenen Jahrhunderten als ir-, er-, ar-, aber auch ur- vorkam und mit ›aus, heraus, von – weg‹ wiederzugeben ist, bildet also den Ausgangspunkt für diese verzweigte dialektale Wortgruppe. So verstanden erklärt sich ein Verb wie uräßen als »ur-essen« wie ›aus-, herausessen‹ (vgl. etwa lesen – erlesen) – man wählt beim Essen also aus, ist wählerisch, lässt manches übrig.